Seelen
Ärger in Kauf genommen, um dich hierherzuholen - alle, die ihn kennen, würden ihn am liebsten windelweich prügeln.« Ich grinste den großen Mann spöttisch an und seine Mundwinkel bogen sich nach oben, obwohl er nicht aufsah und mein Lächeln daher nicht bemerkte.
»Nicht, dass dich das überraschen würde«, sagte Ian neben mir. »Das ist ja nichts Neues, hm, Jodi? Es ist schön, dich wiederzusehen. Obwohl ich mich frage, ob du das genauso siehst. Es war bestimmt mal ganz nett, diesen Idioten länger nicht zu Gesicht zu bekommen.«
Kyle hatte bis jetzt nicht bemerkt, dass sein Bruder auch da war, seine Hand wie ein Schraubstock um meine geschlossen.
»Du erinnerst dich doch an Ian? Er hat es nie mit mir aufnehmen können, aber er versucht es immer noch. Hey, Ian«, fügte Kyle hinzu, ohne seinen Blick zu heben. »Willst du mir vielleicht etwas sagen?«
»Eigentlich nicht.«
»Ich warte auf eine Entschuldigung.«
»Da kannst du lange warten.«
»Stell dir vor, Jodi, er hat mich ins Gesicht getreten. Einfach so.«
»Wer braucht dazu schon einen Grund, was, Jodi?«
Der Schlagabtausch zwischen den Brüdern war auf eigenartige Weise sehr nett. Jodis Anwesenheit sorgte dafür, dass er leichthin und spielerisch ablief. Freundlich und witzig. Ich wäre dafür aufgewacht. Wenn ich Jodi gewesen wäre, hätte ich längst gelächelt.
»Weiter so, Kyle«, murmelte ich. »Genau so. Sie kommt bestimmt zurück.«
Ich wünschte, ich würde Gelegenheit haben, sie kennenzulernen, zu sehen, wie sie war. Ich hatte nur Sunnys Mimik und Gestik vor Augen.
Wie würde es für alle hier sein, Melanie zum ersten Mal zu treffen? Würde ihnen alles unverändert vorkommen, so als gäbe es keinen Unterschied? Würden sie überhaupt begreifen, dass ich weg war, oder würde Melanie einfach meine Rolle übernehmen?
Vielleicht würde sie ihnen auch völlig anders vorkommen. Vielleicht würden sie sich wieder ganz neu an sie gewöhnen müssen. Vielleicht würde sie hier besser hineinpassen, als es bei mir je der Fall gewesen war. Ich stellte sie mir - was bedeutete, mich - umringt von lauter freundlichen Gesichtern vor. Stellte mir vor, wie wir Freedom auf dem Arm hätten und all die Menschen, die mir nie vertraut hatten, uns lächelnd willkommen hießen.
Warum trieb mir das die Tränen in die Augen? War ich wirklich so eifersüchtig?
Nein, versicherte mir Mel. Und sie werden dich vermissen - natürlich werden sie das. Die Besten hier werden deinen Verlust betrauern.
Sie schien meine Entscheidung endlich akzeptiert zu haben.
Ich habe sie nicht akzeptiert, widersprach sie mir. Ich sehe nur keine Möglichkeit, dich davon abzuhalten. Ich kann fühlen, wie nah es bevorsteht. Und ich habe auch Angst, ist das nicht komisch? Ich bin vollkommen verängstigt.
Dann sind wir schon zwei.
»Wanda?«, sagte Kyle.
»Ja?«
»Es tut mir leid.«
»Äh … was?«
»Dass ich versucht habe, dich umzubringen«, sagte er beiläufig. »Ich glaube, das war wirklich nicht in Ordnung.«
Ian keuchte. »Bitte sag mir, dass du irgendein Aufnahmegerät zur Hand hast, Doc.«
»Nein. Tut mir leid, Ian.«
Ian schüttelte den Kopf. »Dieser Augenblick sollte wirklich festgehalten werden. Ich hätte nie gedacht, dass ich irgendwann den Moment erleben würde, in dem Kyle O’Shea einen Fehler eingesteht. Komm schon, Jodi. Da müsstest du doch schon allein vor lauter Schreck aufwachen.«
»Jodi, Schatz, willst du mich nicht verteidigen? Sag Ian, dass ich bisher eben noch nie einen Fehler gemacht habe.« Er gluckste.
Es war schön zu wissen, dass Kyle mich akzeptiert hatte, bevor ich wegging. Das war mehr, als ich erwartet hatte.
Ich konnte hier nichts mehr tun. Es gab keinen Grund, hierzubleiben. Jodi würde entweder zurückkommen oder auch nicht, aber wie die Sache auch ausging, es würde mich nicht von meinem Weg abbringen.
Also schritt ich zu meiner dritten und letzten Tat: Ich log.
Ich trat einen Schritt zurück, holte tief Luft und räkelte mich.
»Ich bin müde, Ian«, sagte ich.
War das wirklich eine Lüge? Es klang gar nicht so falsch. Dies war ein langer, langer Tag gewesen, mein letzter Tag. Mir wurde bewusst, dass ich die ganze Nacht auf den Beinen gewesen war. Seit der letzten Tour hatte ich nicht mehr geschlafen; ich musste vollkommen erschöpft sein.
Ian nickte. »Das kann ich mir vorstellen. Hast du die ganze Nacht bei der Heil … bei Mandy gewacht?«
»Jaa«, gähnte ich.
»Gute Nacht, Doc«, sagte Ian und zog mich zum Ausgang.
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