Seelenangst
war er dazu übergegangen, nicht mehr auf hohe Balkone zu gehen und keine Rasierer mit Klingen mehr zu kaufen. Die blitzenden Rasierklingen von früher hatten ihn einmal zu oft verlockend angeschaut. Na, wie wär’s? Ist bloß ein kleiner Schnitt. Du spürst nur noch, wie das warme Blut deinen Arm herunterströmt, dann ist es vorbei.
Deshalb hatte er sich weiter tätowieren lassen. Als alles in einem schwarzen Sumpf verschwand und er selber immer tiefer am Boden des Brunnenschachts war, brauchte er die Tattoos, um sich seine eigene Geschichte zu erzählen. Um sich mit den Mustern und Farben lebendig zu fühlen und die Schwärze in seinem Innern durch noch mehr Farbe zu übertönen.
Andere führten Tagebuch auf Papier. Hendrik führte Tagebuch auf seiner Haut.
Doch die Schwärze hatte sich nicht vertreiben lassen. Sie war geblieben. Und die Tabletten, die er bekommen hatte, hatten nicht geholfen.
Die Sonne blinzelte zwischen den grauen Wolken hervor. Hendrik hatte gehört, dass die meisten Depressiven sich bei schönem Wetter umbringen. Nicht zu Weihnachten oder im Winter, wie alle glaubten. Düsteres Wetter half, die eigene Düsternis besser zu ertragen. Doch wenn alles leuchtete und strahlte, war die eigene Schwärze noch stärker, noch dunkler, noch unerträglicher.
Er hörte das Rauschen des nächsten Zuges, hörte das Knacken der Weichen. Zug fährt durch , stand auf einer der Anzeigetafeln. Hendrik kam dieser Hinweis wie eine Erlösung vor. Er blickte in die Sonne, die blass und kraftlos durch die Wolken blinzelte wie ein Schwerkranker, der sich kurz vor dem Tod noch einmal aufbäumt. Er hörte das Rauschen des Zuges, der sich unaufhaltsam näherte und ihm dunkle Verlockungen ins Ohr flüsterte, sah seine Füße, die sich beinahe wie in Zeitlupe den Bahnsteig entlang bewegten und sich immer mehr der Bahnsteigkante näherten.
Erst sah er das Zeichen.
Dann das Licht.
Das Licht inmitten des schwarzen Abgrunds.
Es war der Moment, in dem er sich umdrehte.
Die Augen schloss.
Und sprang.
*
Das Geräusch war furchtbar gewesen.
Die Bremsen kreischten, Menschen schrien durcheinander.
Der zerschmetterte Körper lag auf den Schienen.
Der rechte Arm und das rechte Bein ragten aus dem schwarzen Krater, der an der Stelle gähnte, wo bis vor wenigen Sekunden noch die windschnittige Nase des ICEs gewesen war.
Hendriks tote Augen starrten leer zum Himmel. Blut war auf seine Stirn gespritzt. Auf die leere Stelle, die er freigelassen hatte, bis das Schicksal ihm sagen würde, welches Tattoo dort am besten passte. Das war nun geschehen.
Und wo immer Hendrik jetzt war, er konnte es sogar sehen, ohne in den Spiegel blicken zu müssen.
32
Sie waren auf dem Weg in den vierten Stock zum Büro von Alexander Bellmann, dem Chef des LKA Berlin. Winterfeld war mal wieder zu ungeduldig, um auf den Fahrstuhl zu warten, und so nahmen sie die Treppe.
»Aufrücken im Glied«, rief er und wedelte mit der rechten Hand. »Also«, sagte er, als Clara und MacDeath aufgeschlossen hatten, »wir machen es kurz und knapp und to the point, wie der Engländer sagt. Klar?«
Beide nickten.
»Auch wenn wir gerade eine ganze Menge unglaublicher Dinge gehört haben, brauchen wir alle Zeit, die wir haben, um weiter an dem Fall zu arbeiten und diesen Sumpf so schnell wie möglich trockenzulegen. Für stundenlange Diskussionen mit Bellmann haben wir keine Zeit. Dafür ist das Leben zu kurz, egal, wie beschissen lang es ist. Also, vamos.«
Winterfeld öffnete die Tür, und sie betraten das Vorzimmer.
Bellmann saß an seinem überdimensionalen Schreibtisch, wie üblich in einem gedeckten zweireihigen Anzug mit blauer Krawatte, und redete hektisch ins Telefon, als Clara, MacDeath und Winterfeld sein Büro betraten. Frau Bories, die Sekretärin, folgte ihnen, ein Tablett mit Kaffee und Keksen in den Händen.
»Woher soll ich das wissen?«, fauchte Bellmann in den Hörer und wies die drei Besucher mit einer knappen Geste an, schon mal an einem kleineren Konferenztisch gegenüber seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, wo die Sekretärin auch das Tablett abstellte. »Abschiedsgala für Franco Gayo? Wieso fragen Sie mich das? Wer hat Ihnen das gesagt? … Ich weiß nichts von einer Gala … Nein, auch unsere Presseabteilung wird Ihnen dazu nichts sagen können. Wir sind das LKA und nicht das ZDF. Auf Wiederhören!«
Er knallte den Hörer auf die Gabel.
»Vollidiot«, zischte er und rückte seine Krawatte zurecht. »Fragt mich, ob ich weiß, ob eine
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