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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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ihr Cousin zweiten Grades, der über die Jahre so etwas wie ihr nächster Vertrauter geworden war. Christo wusste über ihr Tun und Lassen besser Bescheid als jeder andere, und in vielem auch über ihr Denken und Fühlen. Er hingegen hatte nie mit typischen Männerverrücktheiten Eindruck zu schinden versucht, hatte sie nie mit auch nur einer seiner Freundinnen bekanntgemacht, ja, noch nicht einmal beiläufig eine erwähnt. Vielleicht, weil sie ihn nie danach gefragt hatte? Sie war wohl wirklich ein schrecklich ichbezogener Mensch. Also los:
    Â»Und du? Was ist mit deiner Freundin?«, fragte Dessislava unbeholfen.
    Er schaute sie überrascht an und wurde dabei sichtlich blass.
    Â»Ich habe keine Freundin, Dess!«
    Â»Quatsch!«
    Â»Nie eine gehabt.«
    Â»Und was machst du da?«
    Nun war sie es, die Mühe hatte, ihre Freude und Erleichterung zu verbergen. Es war, als habe sie über eine unsichtbare, aber dreiste Widersacherin den Sieg davongetragen.
    Â»Dummheiten mach ich«, lächelte er melancholisch. »Hab beim Ministerium gekündigt.«
    Â»Wieso das denn?«
    Â»War sicher ein Fehler, mit dem ich mir ein dickes Kuckucksei ins Nest gelegt habe, aber … die Zeiten sind so … so völlig durchgeknallt. Las in einem Gedicht von einer der neuen Lyrikerinnen neulich: ›Es zieht von überall.‹ Ja, genau das ist es. Überall Zugwind, Kälte, Ungeschütztheit. Auch im Ministerium. Und da hab ich’s einfach gemacht.«
    Â»Und jetzt? Wie willst du dich jetzt vor dem Durchzug in Sicherheit bringen?«
    Christos Augen bekamen auf einmal einen wärmeren, fast schalkhaften Ausdruck.
    Â»Indem ich mich in gut isolierte Geschäftsräume begebe und Geschäftsmann werde.«
    Â»Du und Geschäfte? Herrje, eine Schraube locker haben sie ja jetzt alle, aber du bist wirklich die Krönung.«
    Â»Und warum, wenn ich fragen darf?«
    Â»Aber das ist doch ein Haifischbecken, die fressen dich in null Komma nichts auf!«
    Â»Seh ich so hilflos aus?«
    Â»Ja, nein, aber …«
    Â»Aber reichlich naiv bin ich doch, hm?«
    Â»Nein, du bist einfach zu gütig und unpraktisch, und mit dieser Güte gehst du heutzutage für dumm durch.«
    Â»Um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich ähnle wirklich sehr meiner Mutter, die ist auch verdammt zur Redlichkeit. Kannst du mir folgen, Dess?«
    Â»Ich denke schon. Aber was meinst du mit ›verdammt‹?«
    In diesem Moment ging die Wohnungstür. Das konnten nur ihre Mutter oder Simeon sein. Die eine kam ihr so ungelegen wie der andere. Christo spürte wohl, dass es mit ihrer so zauberhaften intimen Zwiesprache nun vorbei war, denn auf sein Gesicht trat nervöse Gereiztheit. Er beugte sich über das Tischchen vor und ergriff ihren Unterarm, als wolle er ihr etwas ungeheuer Wichtiges ins Ohr flüstern.
    Â»Versprich mir eines, Dess!«
    Â»Was soll ich dir versprechen?«
    Â»Dass du versuchst, den Hamlet auf die Bühne zu bringen.«
    Â»Welchen Hamlet ?«
    Â»Na, deinen!«
    Auf einmal verstand sie. Ihr wurde ganz flau. Sie lächelte erschrocken.
    Â»Du weißt sehr genau, dass das unmöglich ist, und hättest es nicht sagen sollen. Es war so schön bis jetzt, und nun hast du mir den ganzen Abend vergällt.«
    Â»Es gibt keine unmöglichen Dinge, Dess. Der Mensch muss dafür nur alles in die Waagschale werfen.«
    Â»Du siehst doch, die Theater sind leer, die sterben eins nach dem anderen. Hast du eine Ahnung, was so eine Shakespeare-Inszenierung kostet?«
    Â»â€¦ alles in die Waagschale werfen …«, wiederholte er.
    Die Tür zum Wohnzimmer ging auf, Simeon trat ein mit einem Hauch von Frühlingsduft und dem absurden Lächeln seines Bühnenhelden Wladimir. Sie hatten auf diesen Moment gewartet, aber »Wladimir« hatte auf dem Weg zu seinem Weibe die Peitsche vergessen, und auch die einstudierte Replik. Die Augen Christos aber füllten sich mit Verachtung und … Hass.
11
    Der Tag war sonnig, der Himmel tief und kristallklar. Über den umgepflügten Feldern lag ein feiner Nebeldunst. Die Sonne täuschte, man konnte sich in den schweren Schatten, der aus der Erde aufsteigenden Kühle blitzschnell eine Erkältung holen. Auf den Ackerschollen hockten Raben, die aussahen, als würden sie über unlösbare Welträtsel nachbrüten; aber ihre Weisheit weckte keine Anteilnahme, keinen

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