Seelenasche
Wunsch, sie zu verstehen, sondern nur Bedrückung.
Die Autoschlange zog sich mehrere Kilometer Richtung Flughafen hin und ähnelte einer Raupe oder einem TausendfüÃler, der sich in Zeitlupe, nur alle paar Minuten ein paar Meter voranbewegte. Als Assen diese absurde Karawane mit der Hand über den Augen abtaxierte, packte ihn nicht etwa Verzweiflung, Wut oder Hass, sondern einfach nur eine bleierne Müdigkeit. Es war jetzt neun Uhr morgens. Wenn das Benzin nicht ausging und der Strom nicht wieder abgestellt wurde, könnte er so gegen fünf oder sechs Uhr abends an der Reihe sein. Die Zeit kroch dahin. Die zum Warten verurteilten Männer schlossen Bekanntschaft, erzählten sich Witze über die Beschränktheit der Muskelmann-Verbrecher, gaben Vertrauliches über ihre Familie oder ihre Arbeit preis, halfen sich mit Zigaretten aus, später auch mit Bier und Schnaps, spielten Backgammon oder Belote auf der Kühlerhaube, und manche, entnervt von der erniedrigenden Situation, fingen auch an, sich zu streiten oder in die Rippen zu stoÃen.
Genau wie alle anderen Konsumgüter des kurzfristigen Bedarfs war auch das Benzin von heute auf morgen vom Markt verschwunden, so als wolle die Regierung Andrej Lukanovs dadurch Druck auf die Bevölkerung ausüben. Arme Leute, die ständig mit der Behebung ihrer Mängelsituation beschäftigt sind, machen keinen Aufstand. Es wurden Coupons ausgegeben. Jeder Führerscheininhaber hatte das Recht auf vierzig Liter Treibstoff im Monat. An die kam er aber nur, wenn er sich in diese endlosen Schlangen vor den wenigen Tankstellen auÃerhalb der Stadt einreihte. Assen hatte seine Coupons über die Akademie bekommen; auÃerdem hatte einer seiner ehemaligen Studenten ihm weitere zwei Coupons verschafft. Dieser Momtschev hatte die Zeichen der Zeit erkannt, sein Jurastudium geschmissen, und machte nun glänzende Geschäfte mit Babynahrung. Vor dem Umbruch war die so billig gewesen, dass sich damit auch die Rentner verpflegten. Momtschev also bekam rechtzeitig Wind, wohin sich die Dinge entwickelten, und klapperte die Produktionsstätten ab, um alles aufzukaufen, was vorhanden war, und es in eigene Lager zu verfrachten. Als der groÃe Hunger losging, schlug er sie für den fünffachen Preis los. Was er sonst trieb, wusste Assen nicht, aber der Mann war so reich geworden, dass er sich gegen kleine Geschenke unter Freunden von Fabriken, Gemeindeverwaltungen und allerlei neu gegründeten Stiftungen zweifelhafter Herkunft und noch zweifelhafterer Bestimmung ganze Stapel Coupons gesichert hatte â ach, und natürlich von der Polizei. Da Assen nach wie vor in Simeonowo lebte, kam er ohne Benzin nicht aus. Der Tank seines Lada war halbleer. Er würde den also mit zwanzig Litern auffüllen, und die restlichen einhundert Liter in fünf Zwanzig-Liter-Kanister, die er zum Glück noch im Gemischtwarenladen im Ortskern von Simeonowo aufgetrieben hatte. Trotz der heruntergekurbelten Fensterscheiben stank das ganze Auto derart penetrant nach Benzin, dass er den Eindruck hatte, bei der kleinsten unbedachten Bewegung oder beim Anzünden einer Zigarette würde seine alte Rostlaube in die Luft gehen.
Normalerweise fuhr er mit ein paar Zeitungen und einem Buch zum Tanken, aber jetzt war er nicht allein. Auf dem Beifahrersitz, eingehüllt in Benzingestank, saà Ljuba, Alexanders Frau, und lächelte entrückt. Sie hatte sich am Vorabend bei ihm gemeldet und um ein Treffen gebeten.
»Bedaure«, hatte Assen sie gebremst, »aber morgen steh ich in der Schlange zur Tankstelle am Flughafen.«
»Da komme ich eben mit«, erwiderte Ljuba mit Hoffnung in der Stimme.
»Deine Gesellschaft ist mir ein Vergnügen, aber ich muss dich vorwarnen: Dieses Vergnügen kann sich den lieben langen Tag hinziehen.«
Sie überlegte einen Moment, dann sagte sie entschlossen: »Es ist aber wichtig!«
Da jeder Tropfen Benzin kostbar war, machten sie aus, dass er sie nicht von zu Hause abholte, sondern an der Chaussee vor dem FuÃballstadion von ZSKA Sofia aufgabelte. Assen hatte Butterbrote geschmiert und im Keller noch eine Flasche Roten gefunden. Die eine Thermosflasche füllte er mit starkem Kaffee, die andere mit heiÃem Tee. Ljuba war ihm äuÃerst sympathisch. Mit dem Instinkt des alten Untergrundkämpfers, der lernen musste, »reine« von »schmutzigen« Bundesgenossen zu unterscheiden, hatte er ihre
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