Seelenband
übertrieb. Dabei war es so verlockend, einfach in ihrer Gegenwart zu bleiben. Sie blockierte seinen Schmerz, solange er bei ihr war. Sie war wie ein helles Licht, das durch den dunklen Vorhang, der ihn umhüllte, strahlte und seine Seele mit Hoffnung und Leben erfüllte.
Plötzlich dachte er an seinen Bindungstag, der sich bald wieder jährte. Obwohl er kaum noch ein Zeitgefühl besaß, wusste er genau, wann dieser Tag anbrechen würde. Es war, als könnte er ein Ticken in seinem Kopf hören. Seit er nach Inaras Tod wieder klar denken konnte, hatte er sich vor diesem einen Tag gefürchtet. Damals schien er noch so gnädig weit weg zu sein, doch nun rückte er immer näher. John presste die Augen zu, als die Erinnerung auf ihn einzuströmen begann, und nur mit größter Mühe gelang es ihm, die Bilder zurückzudrängen. Aber er spürte mit aufsteigender Panik, dass das Tor in seinem Geist nun geöffnet war.
Er wischte sich den klammen Schweiß von der Stirn. Es war so verlockend, Valerie zu bitten, den Tag mit ihm zu verbringen, seinen Schmerz abzublocken, wie nur sie es konnte. So verlockend ... und so falsch.
Er sprang entschlossen auf und schüttelte den Kopf. Nein! Er hatte noch einige Tage, um sich darauf vorzubereiten. Er würde Valerie nicht darum bitten.
Auf einmal hatte John das überwältigende Verlangen, Nalla zu sehen. In ihr schlafendes Gesicht zu blicken und zu spüren, dass es das alles wert war.
Es war schon spät, aber er wusste, dass es noch einen Bus aus der Stadt gab. Wenn er sich beeilte, konnte er ihn noch erwischen. Er würde die Nacht bei ihr verbringen und am Morgen mit dem ersten Bus wieder zurückfahren. Sobald sich dieser Gedanke in seinem Kopf geformt hatte, schnappte John sich seine Jacke und rannte hinaus.
Er verließ den Bus an der gewohnten Stelle. Der tagsüber normalerweise gut gefüllte Parkplatz war leer, als John daran vorbei in den Wald hinein lief. Obwohl er den Weg sehr gut kannte, war es in der zunehmenden Dunkelheit schwierig voranzukommen. Doch seine Ungeduld trieb ihn vorwärts und einige Male wäre er fast gestürzt.
Schließlich erreichte er die Stelle. Sie war gut versteckt, abseits der normalen Wanderpfade. Und wenn man nicht wusste, wonach man Ausschau halten sollte, konnte man nichts erkennen. Er blieb vor einem kleinen Hügel stehen und zog die herunterhängenden Wurzeln und Äste beiseite. Dann drückte er auf einen kleinen Knopf, die bemooste Erde des Hügels flimmerte kurz und löste sich dann auf. Dahinter kam eine kleine Höhle zum Vorschein.
John bückte sich und ging hinein. Sein erster Blick galt den Instrumenten, die Nalla bewusstlos, aber am Leben hielten. Dann setzte er sich zu ihr und strich ihr sanft die Haare aus dem Gesicht.
Als würde sie, trotz des tiefen Schlafs, in dem er sie nun schon seit Monaten hielt, seine Gegenwart spüren, wandte sie ihr Gesicht zu ihm und lächelte ihn an. John drückte ihr einen Kuss auf die blasse Wange, dann ließ er sich neben ihr auf dem Boden nieder. Seinen Kopf an ihre Schulter gelehnt, schlief er schließlich ein.
Er träumte von dem schwarzen Abgrund, in den er fiel. Dem Abgrund, in dessen Tiefe Inara auf ihn wartete, ihn zu sich rief und ihm versprach, dass sein Schmerz dann endlich aufhören würde. Er wollte ihr so gerne folgen. Doch eine kleine Hand hielt ihn fest, eine verängstigte Stimme schrie seinen Namen und er hatte das Gefühl, als würde sein Innerstes zerreißen, in dem verzweifelten Wunsch, bei ihnen beiden gleichzeitig bleiben zu können. Der Schmerz darüber, es nicht zu können, wurde schließlich so stark, dass John schreiend erwachte.
Er brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, wo er war, und einen weiteren, um zu begreifen, dass er etwas Furchtbares getan hatte. Zu seinen Füßen, mit denen er im Schlaf anscheinend wild herumgestrampelt hatte, lag umgestürzt ein kleines metallisches Gerät. Ein grünes Lämpchen blinkte aufgeregt auf dessen Oberseite. John hechtete herüber und schaltete es aus. Dann horchte er angestrengt. Wie lange mochte es an gewesen sein? Gewiss nicht lange, er hatte es bestimmt gerade erst umgeworfen. Und beim Sturz musste es angegangen sein. War das genug für sie gewesen? Oder hatte er es noch rechtzeitig abschalten können? Würden sie ihn nun finden können? Er musste es fortbringen, weg von Nalla. John warf ihr einen besorgten Blick zu, um sich zu vergewissern, dass er im Schlaf nicht noch mehr Schaden angerichtet hatte. Doch ihr Gesicht war ganz ruhig, alle
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