Seelenband
ihn. Konnte sie denn einen Mann lieben, den sie überhaupt nicht kannte? Der sie die ganze Zeit bloß angelogen hatte?
Sie wusste es nicht. Sie fühlte sich leer und ausgebrannt. Am liebsten wäre sie unter ihre Decke gekrochen, um da nie wieder rauskommen zu müssen. Ihr war natürlich klar, dass das keine Lösung war, zumindest keine dauerhafte. Aber für den einen Abend würde es vielleicht genügen.
Valerie stellte ihr Glas beiseite, zog ihre Decke über den Kopf und kuschelte sich darin ein. Heute würde sie sich den Kopf nicht länger zerbrechen.
Plötzlich klingelte es an der Tür und sie zuckte erschrocken zusammen. Dann zog sie die Decke noch fester um sich. "Geh weg", murmelte sie.
Es klingelte noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal.
Valerie fluchte und stand auf. Mit der Decke im Schlepptau ging sie zur Tür. "Geh weg", wiederholte sie, dieses Mal in die Gegensprechanlage.
"Valerie, bitte", tönte Johns Stimme durch die Tür.
Erschrocken sah Valerie durch den Spion.
Da stand er und sah zerknirscht drein. "Können wir reden?"
Die Situation kam Valerie so absurd bekannt vor. Und doch hatte sich alles geändert.
"Was willst du von mir?"
"Reden, dir alles erklären."
"Du meinst, dass du vom Mars kommst oder von wo auch immer?"
"Von Epselia", korrigierte er ruhig.
Valerie schnaubte verächtlich. "Mir auch egal. Ich glaube dir eh kein Wort."
"Wieso sollte ich dich anlügen?"
"Keine Ahnung. Wieso hast du es die letzten Monate getan?" Das saß, stellte Valerie befriedigt fest, als er betroffen zu Boden blickte.
"Ich habe dich nicht angelogen", widersprach er leise.
"Nein, überhaupt nicht", höhnte sie.
"Ich habe dir nicht alles gesagt, aber ich habe dich nicht angelogen", beharrte er entschieden.
Plötzlich öffnete sich die Tür der gegenüberliegenden Wohnung und Valeries Nachbarin schaute verärgert heraus. "Menschen versuchen hier zu schlafen, junger Mann", fuhr sie John an. "Entweder Sie gehen da jetzt hinein oder Sie verschwinden. Oder ich rufe die Polizei."
"Valerie, bitte", John sah sie beschwörend an.
Sie sah, dass er nicht gehen wollte, aber Ärger mit der Polizei konnte er sich kaum erlauben. Sie war wirklich versucht, es darauf ankommen zu lassen. Doch plötzlich war Johns Gesicht ganz nah an der Tür, so dass sie ihm genau in die Augen sehen konnte.
"Wenn du wirklich willst, dass ich gehe, dass ich für immer verschwinde und dich nie wieder belästige, dann sag es jetzt und ich werde gehen."
"Geh weg", sagte Valerie leise. Auch wenn es ihr das Herz brach, sie wollte ihn jetzt nicht sehen.
John lächelte sie zärtlich an. "Lass mich rein,
Pei Thara
."
"Ich sagte doch, du sollst gehen", sagte sie irritiert.
"Aber du hast es nicht so gemeint."
"Was soll es denn nun sein: rein, raus oder Polizei?" mischte sich die Nachbarin wieder ungeduldig ein.
"Können wir bitte ein wenig Privatsphäre haben?" rief Valerie zurück. "Es dauert auch nicht lange, höchstens fünf Minuten."
"Keine Sekunde länger", sagte die Nachbarin mürrisch und machte ihre Tür zu. Valerie war sicher, dass sie alles durch den Spion beobachtete, eine so neugierige Person hatte sie noch nie kennen gelernt. Aber es war ihr egal. Sie hatte einen Entschluss gefasst. Sie holte ihr Pfefferspray aus der Handtasche, dann legte sie die Kette vor und entriegelte die Tür. "Geh einen Schritt zurück", rief sie John zu.
Er gehorchte verständnislos.
Vorsichtig öffnete Valerie die Tür, bis die Kette gespannt war.
John beobachtete sie regungslos. Anscheinend wollte er sie nicht noch mehr beängstigen.
"Komm jetzt langsam näher", forderte sie ihn auf. "Und keine faulen Tricks."
John tat, was sie verlangte.
"Und jetzt lass mich deinen Bauch sehen."
Er zog sein Hemd hoch und trat noch ein wenig näher an den Türspalt heran.
Valerie streckte ihren Arm aus und fuhr mit der Hand über seinen durchtrainierten Bauch. Sie versuchte, den Rand der Maske zu ertasten, fand aber nur glatte, erstaunlich unbehaarte Haut. Da das erfolglos blieb, bohrte sie ihren Fingernagel in die Stelle, wo sein Bauchnabel hätte sein sollen.
John sog hörbar die Luft ein. "Au!" beschwerte er sich.
Valerie ließ sich erschüttert auf den Boden sinken. "Es ist also tatsächlich wahr", flüsterte sie.
"Ja, das ist es,
Pei Thara
. Darf ich jetzt rein kommen?"
"Von mir aus", murmelte sie müde und rappelte sich auf. Sie schloss die Tür und entfernte die Kette. Dann öffnete sie die Tür wieder, das Pfefferspray fest in der Hand, die Öffnung auf ihn gerichtet. "Komm
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