Seelenbrand (German Edition)
des Friedhofs, das – wie der Korken auf einer Flasche – den Zugang in diesen Bereich des Anwesens verschloß. Jeder, der hier hereinging, konnte den Ort auch nur auf diesem einen Wege wieder verlassen. Da! Es steht offen! Die losen Zweige des Efeus am geöffneten Spalt wippten noch hin und her. Der kann noch nicht weit sein! Jetzt oder nie!
Eigentlich hätte er dem riesigen zugewachsenen Tor einenmächtigen Tritt versetzen wollen, wie der Kirchentür, aber irgend etwas hielt ihn zurück. Statt dessen schob er lieber vorsichtig seinen Kopf durch den Spalt. Das Efeu griff nach seinem Hals und zitterte.
Gütiger Himmel! Was ist denn das! Quietschend drückte er schließlich das mächtige Tor weiter auf und vergewisserte sich mit einem kurzen Blick um die Ecke, daß niemand auf der anderen Seite des Pflanzenvorhangs wartete. Er war zwar nur ein Pfarrer, aber er war nicht einfältig. Und obwohl er sich nicht für übermäßig schreckhaft hielt, stockte ihm bei diesem Anblick doch der Atem. Hier sah es aus wie nach dem jüngsten Gericht. Die Gräber! Die Gräber! Sie waren alle geöffnet worden. Wie aufgerissene Mäuler waren sie über die schaurige Sandwüste verstreut. Hier gab es keinen Baum oder Strauch!
Pierre betrat vorsichtig den sandigen Platz vor den Löchern. Er sah sich um, aber es war nichts weiter da, keine Blume, gar nichts! Nur die aufgewühlte Erde neben den Gräbern. Gespenstisch! Hatten sich etwa die Toten hier aus ihren Särgen erhoben? Oder war ein Besessener – bewaffnet mit Schaufel und Wahnsinn – in ihr Reich eingedrungen und hatte so dieses Schlachtfeld hinterlassen.
Die wenigen Grabsteine, die noch standen, rangen im sandigen Boden am Rande der tiefen Gruben nach Halt und hatten bereits eine gefährliche Neigung angenommen. Der Rest von ihnen war schon in die Löcher gerutscht. Hier, an diesem hermetisch von Mauern umschlossenen Acker, war schon lange niemand mehr beigesetzt worden, das war sicher. Aber wo war diese fremde Person geblieben? Sie muß doch hier sein! Verdammt! Sie muß!
»Hallo!« rief Pierre laut. »Ist hier jemand?«
Vorsichtig bewegte er sich zwischen den Gräbern vorwärts, um auch die Ecken einsehen zu können, die von den letzten großen Grabsteinen verdeckt wurden.
»Hallo?«
Keine Antwort. Je weiter er sich vom Eingangstor entfernte, um so unheimlicher wurde ihm dieser Ort. Während er zwischen den Gräbern diesen schmalen – kaum einen halben Meter breiten – Pfad entlangging, blickte er vorsichtig nach rechts und links in die tiefen Gruben, die zum Teil halb mit Sand gefüllt waren,zum Teil aber auch eine Tiefe aufwiesen, daß ein Sarg noch problemlos darin Platz gefunden hätte. Er mußte höllisch aufpassen, um nicht mit einem Fuß in ein Loch zu rutschen. Der trockene Boden am Rande dieser Gruben bröckelte unter jedem seiner Schritte und rieselte in die Gräber hinunter.
»Hallo?« rief er nochmals, ohne seinen Blick von seinen Füßen zu nehmen.
Nach der Schilderung dieses Handwerkers Claude Olivier von den Skeletten in den Kirchenwänden und unter dem Kirchenboden war er ja auf einiges gefaßt. Aber dieser widerliche Friedhof, dessen Oberfläche so morsch war, wie die Gerippe, die er beherbergte, war schon ein mächtig ekeliger Fleck. Allein die Vorstellung, in eine solche Grube zu rutschen, löste bei ihm schon heftige Übelkeit aus.
Er blieb stehen und sah sich noch einmal um. Diese Person wollte ganz offensichtlich nicht antworten. Was hatte er auch erwartet? Sie hatte garantiert etwas zu verbergen. Was auch immer mit diesem Fremden los war, eins war sicher: er mußte hier sein. Vielleicht hatte er sich in einem dieser offenen Gräber versteckt? Der Gedanke in seinem Hirn glühte noch einen Moment nach, als auf einmal ... He? Uah! ... der Boden unter seinem Fuß plötzlich nachgab, und er – wild mit den Armen rudernd – in einem tiefen Loch verschwand.
Rums! Mit einem dumpfen Knall landete er auf dem Rücken am Boden des Grabes. Die Staubschwaden schossen hoch, und der trockene Sand rutschte unaufhaltsam vom Rand der Grube auf ihn hinunter. Vorsichtig setzte er sich auf, bewegte Arme und Beine und tastete mit der Hand seinen Rücken ab. Verdammt! So was Blödes! Wenigstens hatte er sich nichts verrenkt oder gebrochen! Aber, wenn er so diese bröckeligen Wände des Grabes hochsah, war das Loch aus diesem Blickwinkel doch wesentlich tiefer, als er von oben gedacht hatte.
Gott sei Dank hat mich niemand gesehen! Total lächerlich, wie ein
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