Seelenfänger
berührte, und stellte sich vor, wie sich der Wind nach und nach einen Weg durch Ritzen und Fugen bahnte. Manchmal wurden die Vibrationen so stark, dass Staub von der Decke rieselte. Das »Beinhaus« war ein großer Raum mit einem Boden aus kalten graubraunen Fliesen und dicken nackten Mauern, darin zahlreiche größere und kleinere Nischen, in denen Knochen lagen, manchmal ganze Skelette. Weitere Knochen ruhten auf Tischen oder einfach auf dem Boden, wie wahllos verstreut.
Benedict bemerkte Florences Blick. »Ich habe hier nichts angerührt, Ehrenwort.« Er wackelte kurz mit dem Kopf. »Na ja, den einen oder anderen Knochen habe ich angefasst, zugegeben, aber dieses Durcheinander hier ist nicht meine Schuld. Ich vermute, mit den Steuerungsmechanismen der Falle stimmt was nicht. Nehmen Sie nur den Sturm.« Er deutete zu den Fenstern auf der gegenüberliegenden Seite des Raums, und Florence hörte das Knistern und Klacken von Staub und kleinen Steinen, die von den Böen gegen das schmutzige Glas geschleudert wurden. »Er lässt nie nach. Nie! Er faucht und heult, seit ich hier bin, seit fast einem Jahr. Vielleicht wird er irgendwann so stark, dass die Mauern dieser Festung nachgeben, so dick und stabil sie uns auch erscheinen mögen. Ich sage Ihnen, Florence: Die Falle, die Leute wie Sie und mich für die Ernter des Seelenfängers festhalten sollte, könnte zu einer Falle werden, die uns den Tod bringt, wenn wir keine Möglichkeit finden, von hier zu verschwinden.«
»Diesen Leuten hier hat sie zweifellos den Tod gebracht«, sagte Florence.
Benedict nickte. »Die beiden Ernter, die ich erschossen habe, liegen dort drüben.«
Sie gingen an einem langen Tisch vorbei, auf dem haupt sächlich Oberschenkel- und Beckenknochen lagen, zwischen ihnen der eine oder andere Schädel. Daneben, in einer besonders großen Wandnische, lagen zwei gut erhaltene Skelette, wie Schlafende halb zusammengerollt, die Knochen weiß wie Schnee.
Florence betrachtete sie eine Zeit lang und fragte sich, ob die Käfer, die im Raum mit dem Buch aus den Wänden gekrochen waren, das Fleisch von all diesen Knochen genagt hatten. »Woher wollen Sie wissen, dass es die beiden ›Ernter‹ sind?«
»Es sind die jüngsten Knochen«, antwortete Benedict sofort, als hätte er mit dieser Frage gerechnet. »Und sie erschienen hier kurz nach ihrem Tod. Sie müssen es sein.«
»Was ist mit Kleidung, persönlichen Dingen und so weiter?«
Benedict zuckte die Schultern. »Das alles lässt die Falle verschwinden. Nur die Knochen bleiben übrig. Vielleicht hat es was mit der Resistenz zu tun. Oder mit zunehmenden Fehlfunktionen. Ich habe oft befürchtet, auch meine Ausrüstung – oder das, was von ihr übrig ist – könnte verschwinden.«
Florences Blick wanderte durch den Raum. »Wer waren all diese Leute? Wie lange liegen die Knochen schon hier? Einige von ihnen scheinen sehr alt zu sein. Und wie viele Skelette sind es? Dreißig? Vierzig?«
»Vierundvierzig«, sagte Benedict. »Vierundvierzig Legaten, beziehungsweise Traveller. Wenn ich die Knochen richtig gezählt und zugeordnet habe.«
Sie wanderten langsam durch den Raum, während draußen der Wind fauchte wie ein Ungeheuer, das die Festung belagerte.
»Aber wenn dies eine Falle ist …«, sagte Florence nachdenklich. »Wenn dieser Ort dazu dient, Traveller für den Seelenfänger einzufangen … Warum sind dann all diese Leute gestorben?«
Sie blieb vor einem Schädel stehen, der nicht von einem Menschen stammte. Er war groß, noch größer als Benedicts Kopf, und länglicher, mit leistenartigen Erweiterungen, die über beide Seiten bis zum Hinterkopf reichten.
»Vermutlich ein Karay von Ronayne«, sagte Benedict. »Ein ziemlich weiter Weg bis hierher.« Er gestikulierte vage. »Kurz nach meinem Eintreffen habe ich Messungen vorgenommen, als die primären Geräte noch funktionierten. Offenbar sind wir hier nicht weit vom Hauptstrang entfernt, und Ronayne befindet sich an einer der Verbindungsstellen zu den anderen Netzen.«
Florence fragte nicht, was er mit den anderen Netzen meinte, aber Benedict schien die Frage in ihren Augen zu sehen. »Unser Weltennetz ist Teil eines größeren Verbunds von Netzen. Das Symposium spricht in diesem Zusammenhang von der ›Pluralität‹. Manchmal erhalten wir Besuch von den anderen Strängen, und das geschieht hauptsächlich an den Verbindungsstellen.« Benedict schüttelte den Kopf. »Tja, meine Liebe, das alles ist natürlich völlig neu für Sie, die Sie
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