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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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ausstreckte.
    Benedict beobachtete sie. »Machen Sie nicht erneut den Fehler von anthropomorphem realweltlichem Denken. Wenn Sie den ganzen Wald sehen wollen und nicht nur den Teil, in dem Sie stehen, sollten Sie versuchen, ein wenig Abstand zu gewinnen. Abstand von dem, was Sie bisher für die Wirklichkeit gehalten haben.«
    »Der Glaube macht den Unterschied«, murmelte Florence.
    »Wie bitte?«
    »Schon gut.« Sie wandte sich vom Fenster ab, den Kopf voll wirrer Gedanken, die geordnet werden mussten.
    »Erasmus könnte es Ihnen vielleicht besser erklären als ich«, sagte Benedict, der offenbar glaubte, nicht genug Über zeugungsarbeit geleistet zu haben. »Und wenn es dann noch immer Zweifel in Ihnen gäbe, könnten Sie eins der Wahrheitszentren von Lassonde besuchen. Es würde Ihnen die Realität deutlich genug vor Augen führen.«
    Auch der andere Matthias war felsenfest von seiner eigenen Wirklichkeit überzeugt, dachte Florence.
    »Seit einem Jahr sind Sie hier«, sagte sie, und ihr Blick wanderte dabei erneut über die Knochen in dem Zimmer der sturmumtosten Festung, das Benedict »Beinhaus« nann te. »Vermisst man Sie nicht?«
    »Bestimmt.« Der kleine Mann deutete auf die Knochen. »Vielleicht stammen einige dieser Leute von Protektor und waren auf der Suche nach mir.«
    »Ich habe keine Lust, hier ein Jahr festzusitzen«, sagte Florence mit plötzlicher Entschlossenheit. »Zach braucht meine Hilfe. Wir müssen die Falle aus eigener Kraft verlassen.«
    »Sie haben doch gesagt, dass Sie nicht wissen, wie man die Phasenschwelle öffnet.«
    »Das weiß ich auch nicht.« Florence begann mit einer langsamen Wanderung durch den Raum, vorbei an Tischen und Nischen. »Ich nehme an, das Buch weiß darüber Bescheid. Aber es wollte mir keine Auskunft geben. Es verlangt immer wieder eine ›magische Formel‹, und für langes Ausprobieren fehlte mir die Zeit.«
    Benedict sah auf die Anzeige des mit seinem Handgelenk verwachsenen Geräts. »In drei Stunden, zwölf Minuten und einundvierzig Sekunden öffnete sich der Zugang erneut. Dann können wir es noch einmal versuchen.« Er seufzte. »Es wäre schön, wenn ich dort meine Waffe wiederfände, aber das wage ich kaum zu hoffen. Es verschwindet immer alles.«
    Plötzlich war die Idee da, in allen Einzelheiten, ohne dass ihr hier und dort noch etwas hinzugefügt werden musste. Florence blieb bei der Tür stehen und sah den kleinen Mann an. »Ihre Waffe … Ich nehme an, es war eine Art Laser, ja?«
    »Laser?«
    »Eine Waffe, die keine Projektile verwendet, sondern Energie.«
    »Ja, stimmt.«
    »Haben Sie noch was in der Art? Vielleicht einen kleinen … Schneidbrenner?«
    »Warum?«
    Florence lächelte. »Wir verschaffen uns mehr Zeit für eine Plauderei mit dem Buch.«

22
    S ie waren früh losgegangen, um in jedem Fall pünktlich zur Stelle zu sein. Etwa zehn Minuten hatten sie im dunklen, kalten Gang gewartet, als sich ein Knirschen ins gedämpfte Heulen des Sturms mischte. Eine vertikale Linie entstand im grauen Stein am Ende des Flurs und verwandelte sich in einen schmalen Spalt, der nach und nach breiter wurde, als die Wände zu beiden Seiten zurückwichen. Benedict drückte sich an die Wand und hielt das kleine Gerät, das er inseinem Quartier zusammengebastelt hatte, wie eine Pistole in der Hand, obwohl er damit niemanden erschießen konnte. Das Knirschen von Stein auf Stein dauerte an, und aus dem Spalt wurde ein Tor, hinter dem sich der Raum mit der weißen Tür und dem steinernen Pult in der Mitte erstreckte.
    »Niemand da«, stellte Benedict erleichtert fest. Einige schnelle Schritte trugen ihn zur weißen Tür, die noch immer weder Knauf noch Klinke hatte. Er kratzte an ihren Rändern, an den kaum sichtbaren Fugen, zischte dann ein zorniges »Verdammt!« und trat nach der weißen Tür, die weiterhin geschlossen blieb.
    »Vergeuden Sie keine Zeit«, sagte Florence. »Versuchen Sie, die Ketten durchzuschneiden.«
    Benedict setzte die kleine Schutzbrille auf, die er mitgenommen hatte – sie ähnelte einer Sonnenbrille –, und Florence hielt den Blick von der kleinen Flamme abgewandt, die sich durchs Eisen der ersten Kette fraß, richtete ihn stattdessen auf das Buch.
    Der unsichtbare Stift kratzte erneut übers Papier. Worte erschienen auf der linken Seite, die wieder leer war, wie beim ersten Mal. Was macht ihr da?
    Florence nahm den Federkiel und schrieb: Rate mal.
    Das Kratzen wiederholte sich. Ich will wissen, was ihr da macht. Antworte mir, dummes

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