Seelenfänger
von einer Saatwelt kommen und nicht einmal wissen, was es damit auf sich hat.«
»Erklären Sie es mir.«
Sie gingen am letzten Tisch vorbei, auf dem die Knochen säuberlich sortiert lagen, die kleinen links, die größeren rechts, und Florence fragte sich kurz, wer sie sortiert hatte.
»Ich habe damit nichts zu tun«, sagte Benedict. »Mit der Sortierung der Knochen, meine ich. Oh, sehen Sie mich nicht so an, Florence. An ihrer Stelle hätte ich mich das ebenfalls gefragt.« Er strich sich über den Kopf, wie in dem Versuch, sein wirres Haar zu glätten. »Ich nehme an, Sie halten mich für verrückt, ja? Vielleicht klinge ich so.«
»Sie hätten mich fast erschossen«, sagte Florence.
»Ja, ja, und das tut mir wirklich leid.« Sie blieben an einem der schmalen Fenster stehen und sahen nach draußen, in die vom Sturm aufgewirbelten Staubwolken, in denen sich die Umrisse weiterer Festungsmauern abzeichneten. Irgendwo unten am Hang blitzte ein Licht auf, und Florence versuchte, Einzelheiten zu erkennen, sah aber nur düsteres, farbloses Grau. »Versuchen Sie, mich zu verstehen. Ich war verzweifelt. Ein Jahr ganz allein, so was geht nicht spurlos an einem vorbei.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Meine Güte, wie sehr ich diesen Sturm hasse!«
»Sie wollten mir erklären, was eine Saatwelt ist«, sagte Florence. »Und Sie haben noch nicht auf meine Frage geantwortet, warum all diese Leute gestorben sind.«
»Weil sie den Raum mit der Phasenschwelle nicht schnell genug verlassen haben«, erwiderte Benedict. »Ich nehme an, das ist der Grund. Sie haben versucht, die Schwelle zu öffnen oder das verdammte Buch dazu zu bringen, ihnen Auskunft zu geben. Und dann hat sich das Tor geschlossen, die Käfer kamen aus den Wänden … Den Rest können sie sich denken.«
»Eine ziemlich ineffiziente Falle«, kommentierte Florence.
»Ineffizient? Ich sitze hier seit fast einem Jahr fest, und es kamen Ernter des Seelenfängers, um mich zu holen!« Benedict schnaufte. »Aber wer weiß? Vielleicht treiben sich seine Leute hauptsächlich auf den Saatwelten herum. Auf Ihrer Erde, zum Beispiel. Einige wurden von den Weltenbauern konstruiert; auf anderen haben Salomos Leute Veränderungen herbeigeführt, die mittelfristig zu globalen Katastrophen führen. Bei Ihnen ist es ein steigender Meeresspiegel, anderenorts vielleicht eine drohende neue Eiszeit. Oder ein Komet oder Asteroid, der alles Leben auslöschen könnte. In Lapinta glaubten die Legaten des Seelenfängers, besonders geschickt zu sein. Sie verzichteten auf das übliche Katastrophenszenario und entwickelten ein Virus, das latent begabten Menschen die Fähigkeit des Reisens im Netz geben sollte. Das Experiment ging schief. Das Virus mutierte und brachte fast alle Menschen um; die wenigen Überlebenden verwandelten sich in …« Er suchte nach einem passenden Wort. »… Zombies.«
»Aber warum?«, fragte Florence und lauschte dem Heulen des Sturms, als könnte es ihr Antwort bringen. »Warum bringt er so vielen Menschen den Tod?«
»Salomo sät evolutionären Druck in der Hoffnung, Legaten ernten zu können. Ihre Schilderungen deuten darauf hin, dass es so auf der Erde geschehen ist. Die immer katastrophaleren Lebensbedingungen beschleunigen die Evolution, und das Ergebnis sind Ihre Traveller. In anderen Welten spielen sich ähnliche Entwicklungen ab. Verstehen Sie jetzt, warum wir von ›Saatwelten‹ sprechen?«
Florence überlegte stattdessen, wer sich dies alles ausgedacht hatte, eine so komplexe Pseudorealität, mit so vielen interagierenden Faktoren, dass selbst sie – eine ausgebildete Therapeutin, die gelernt hatte, am Realen festzuhalten, es nie aus den Augen zu verlieren – an die tatsächliche Existenz dieser Welten zu glauben begann. Der globale Anstieg des Meeresspiegels auf der Erde, der den Lebensraum von zig Millionen Menschen bedrohte – und Europa vielleicht durch ein Ausbleiben des Golfstroms eine Vergletscherung bescherte, trotz globaler Erwärmung –, war nicht das Ergebnis maligner Gedanken ferner Weltenbauer, sondern das Resultat von Profitgier, korporativer Engstirnigkeit und politisch-ökonomischem Egoismus, über einen Zeitraum von gut hundertfünfzig Jahren hinweg, seit der industriellen Revolution. Dass die Traveller auf der Erde ihr Talent evolutionärem Druck verdankten, vermuteten auch einige Wis senschaftler; dahinter steckte kein Seelenfänger, der im Hin tergrund lauerte wie ein Krake und seine Tentakel nach ahnungslosen Opfern
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