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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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schien inzwischen der Meinung zu sein, Florence falsch eingeschätzt zu haben. Die Feindseligkeit war verschwunden, auch ein Teil des Misstrauens. Offenbar verspürte er das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, und das mochte auch der Grund sein, warum er Florence zu seinem Quartier gebracht hatte, in dem er seit einem Jahr wohnte beziehungsweise hauste. Es befand sich im Keller des Hauptgebäudes, zu erreichen durch einen Tunnel an der einen Seite des Hofes, über den trotz der hohen Mauern immerzu der Wind pfiff. Es war ein großer, ovaler Raum, der ebenfalls über einen Kamin verfügte, in dem Benedict gerade ein Feuer angezündet hatte; zwei kleine Fenster gewährten Blick auf den im Schatten liegenden Eingang des Nebengebäudes. In der einen Ecke bildete ein Durcheinander aus Decken und Kissen ein Bett, und daneben, auf einem dunklen Kunststoffkasten, der Florence an eine Lautsprecherbox erinnerte, stand eine Lampe, von der ruhiges, gelbes Licht ausging. Es brannte kein Feuer hinter ihrem Glas – jedenfalls entdeckte Florence weder Docht noch Flamme, als sie sich die Lampe aus der Nähe ansah. Es gab auch kein Kabel, und als Florence die Lampe hob und ihre Unterseite betrachtete, stellte sie fest, dass sie innen hohl war.
    »Woher kommt das Licht?«, fragte sie.
    »Was?« Benedict hantierte bei den Geräten und Instrumenten, die auf der anderen Seite des Raums standen und lagen, manche von ihnen wie zu seltsamen, abstrakt wirkenden Skulpturen angeordnet, mit runden, glatten Flanken. Immer wieder summte und piepte es in ihrer Mitte, ohne dass sich die Geräusche einzelnen Komponenten zuordnen ließen.
    »Das Licht dieser Lampe«, sagte Florence. »Woher kommt es?«
    Benedict drehte den Kopf. »Oh. Es ist eine ewige Lampe. Sie bezieht ihre Betriebsenergie aus einer kleinen Nuklearzelle, die sich erst in tausend Jahren erschöpft. So heißt es jedenfalls.«
    Florence stellte die Lampe wieder auf den dunklen Kunststoffkasten. Nuklearzelle? »Die beiden Männer waren also gekommen, um Sie zu holen«, rekapitulierte sie. »So wie ich?«
    Benedict seufzte. »Ich verstehe, was Sie meinen, und ja, inzwischen glaube ich, dass es Ihnen ebenso ergangen ist wie mir, dass Sie von der Falle erwischt worden sind. Aber die beiden Männer … Es waren eindeutig seine Leute.« Er wandte sich wieder den Geräten zu und drehte an den Reglern einer silbernen Box. Irgendwo blubberte es, und Dampf stieg auf.
    »Gesandte des Seelenfängers«, sagte Florence.
    »Ernter«, brummte Benedict. »So nennen wir sie. Leute, die nachsehen, was die Fallen eingefangen haben. Sie wollten mich zu ihm bringen, aber ich war vorbereitet, zog meine Waffe …«
    »Und haben die beiden Männer erschossen.«
    Benedict nickte. »Anschließend musste ich den Raum verlassen, weil sich der Zugang schloss. Beim nächsten Zyklus waren die Toten nicht mehr da. Vermutlich liegen ihre sterblichen Überreste im Beinhaus, aber ganz sicher bin ich mir nicht, denn dort gibt es nur Knochen, nicht einen Fetzen Fleisch.«
    Florence beobachtete den kleinen Mann und glaubte noch immer, dass er nicht klar bei Verstand war. Vielleicht lag es daran, dass er ein Jahr an diesem Ort verbracht hatte, in dieser düsteren Festung, ganz allein, nur begleitet vom Heulen des Windes. Oder war dies bei ihm ein normaler Zustand, eine natürliche Labilität? Auf dem Weg hierher hatte Florence versucht, einen empathischen Eindruck von ihm zu gewinnen, aber das war ihr nicht gelungen. Die Fähigkeiten, die sie zu einer guten Therapeutin der Foundation gemacht hatten, versagten hier.
    »Im Beinhaus?«, fragte Florence.
    »Ein Zimmer im obersten Stockwerk des Hauptgebäudes.« Benedict kam mit einem rechteckigen Kasten herüber, den er an einem langen Stiel hielt. Dampf stieg davon auf, und Florence nahm einen Geruch wie von gebackenen Kartoffeln wahr. Der kleine Mann stellte den Kasten auf den Tisch, zog zwei Teller aus dem Gerümpel neben dem Bett und wischte sie mit dem Ellenbogen sauber. Anschließend reichte er Florence einen fleckigen Löffel.
    »Was ist das?« Sie deutete auf den graubraunen Brei im rechteckigen Kasten.
    »Beim Synther funktioniert nur noch ein Programm«, sagte Benedict und begann damit, Brei zu löffeln. Er aß mit großem Appetit und forderte Florence auf, sich ein Beispiel an ihm zu nehmen. Er sah seltsam aus, mit den hinter ihm züngelnden Flammen des Kamins: Das unstete Licht gab ihm eine vage Aura, und die noch funktionierenden und nicht von Schmutz bedeckten

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