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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Foundation sind.
    In wessen Kopf befanden sie sich hier? An wessen wirren Träumen nahmen sie teil?
    »Kommen Sie, kommen Sie!« Benedict ergriff ihre Hand und zog sie mit sich, durch einen der breiten Zugänge und hinaus auf …
    Auf die Plattform eines Turms.
    Schwindel erfasste Florence, und für einige Sekunden drehte sich alles um sie herum. Dass der Gestank hier draußen noch viel schlimmer war als drinnen, machte es nicht leichter für sie. Zunächst hielt sie instinktiv den Atem an, doch das nützte nichts, schob das Unvermeidliche nur hinaus; sie musste atmen, wenn der Schwindelanfall nicht zu einer Ohnmacht werden sollte. Sie öffnete den Mund, aber als sie ihre Lunge füllte, strich auch genug Luft durch die Nase, und sie würgte, taumelte gegen die Brüstung, hinter der sich ein kilometertiefer urbaner Abgrund erstreckte, und klammerte sich daran fest. Es roch nach verbranntem Öl, nach tagealtem Schweiß und Gasen, wie man sie in einem Sumpf erwartete; hinzu kam eine scharfe Komponente, wie von Ozon oder Ammoniak, die bei jedem Atemzug in der Kehle brannte und ihr Tränen in die Augen trieb.
    »Ist es nicht wunderbar?«, schwärmte Benedict. »Ach, wie sehr habe ich dies alles vermisst! Aber jetzt bin ich wieder hier, und meine Mission war ein voller Erfolg. Sie war sogar noch erfolgreicher, als ich dachte. Kommen Sie, wir müssen zu Erasmus und ihm die gute Nachricht bringen!«
    Welche gute Nachricht, dachte sie. Dass wir aus der Festung entkommen sind, nur damit ich hier ersticke?
    Aber das Brennen ließ nach, und ihre Professionalität als Therapeutin der Foundation sorgte dafür, dass sie sich schnell an neue, überwältigende Sinneseindrücke gewöhnte – instinktive Adaptation, hieß das im therapeutischen Sprachgebrauch. Der Tränenschleier in ihren Augen wurde dünner, und Lassonde präsentierte ihr mehr Details. Hunderte, Tausende von Türmen ragten aus den urbanen Tiefen einer gewaltigen, sich in alle Richtungen erstreckenden Stadt, manche von ihnen so dünn, dass es den Anschein hatte, als genügte ein kräftiger Windstoß, um sie einstürzen zu lassen, andere so dick wie Säulen, die das kolossale Gewicht des Himmelsgewölbes tragen mussten. Überall dröhnte und summte es von Motoren, die Luftschiffe antrieben, so zahlreich wie die Türme, gewal tige Zeppeline, die zwischen den Türmen navigierten, wie Wale in einem Ozean aus Luft, mit Propellern, deren Flügel die aus den graubraunen Tiefen aufsteigenden Dunstschwaden durchschnitten und verwirbelten. Zwischen ihnen flogen Geschöpfe, die auf den ersten Blick betrachtet wie Nachfahren des einstigen Archäopteryx aus sahen und bei genauerem Hinsehen Ähnlichkeit mit Men schen bekamen, denen lange, ledrige Flügel gewachsen waren. Sie zogen kleinere Luftschiffe ohne Navigations propeller, unter weißen Ballons hängende Gondeln voller Passagiere, wie Perlen an einer Kette aufgereiht. Manchmal kamen sich Zeppeline und Gondeln zu nahe, und dann hallten Warnsignale über die Stadt, ein dumpfes Tuten, das in Florences Ohren schmerzte. Einzelne Menschen waren mit individuellen Fluggeräten unterwegs, skurril anmutenden Konstruktionen aus mehreren unterschiedlich großen Propellern, die bei ihrer Rotation ineinandergriffen, ohne dass sich die Rotorblätter berührten. Einige von ihnen landeten nicht weit von Florence entfernt auf der Plattform, woraufhin die Propeller wie Flügel zusammenklappten und in einen Tornister zurückwichen, den die Reisenden auf dem Rücken trugen. Die Betreffenden waren so klein wie Benedict und hatten ähnlich große Köpfe. Die größeren Menschen auf der Plattform machten ihnen Platz, als sie zu den Eingängen eilten und im Innern der Kuppel verschwanden.
    Nachdem Florence den ersten Schock überwunden hatte, gelang es ihr, den Blick nach unten zu richten, und was sie dort sah, in einer Tiefe von mehreren Kilometern und teilweise in dichte, wolkenartige Rauchschwaden gehüllt, die den Blick auf Einzelheiten verwehrten, war eine schier endlose Industrielandschaft, aus der das Brummen von Maschinen heraufdrang. Gewaltige Aggregate, die Kilometer durchmaßen, reckten sich dem fernen Himmel entgegen, ohne auch nur annähernd die Größe der Türme zu erreichen, die mit verblassten, schmutzigen Pastellfarben aus ihrer Mitte wuchsen, wie Triebe, die versuchten, das Sonnenlicht zu erreichen. Gelegentlich kam ein Stampfen und Donnern aus der Tiefe, wie der unregelmäßige Herz schlag eines riesigen Maschinenwesens, und der

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