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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Unterschied, dass sich bei ihr der Zeitraum nicht auf einige wenige Sekunden beschränkte, sondern mehrere Jahre umfasste, und der Ort keine Straße war, sondern eine ganze Stadt, und eine sehr große noch dazu: São Paulo, eine der zwölf Kollaps-Metropolen, die dem Ansturm der Flüchtlinge nach der Zweiten Großen Flut nicht standgehalten hatten. Damals war es zu einer neuen Flut gekommen, einer Flut aus Menschen, und in gewisser Weise war sie noch schlimmer und zerstörerischer gewesen als die aus Wasser, denn sie hatte die Grundfesten der Zivilisation nicht nur erschüttert, sondern tiefe Risse und Löcher darin hinterlassen.
    Zacharias wusste nicht, was aus seinen Eltern und der kleinen Patrizia geworden war; er hatte sie nie wiedergesehen. Vielleicht waren sie wie viele andere Opfer der Plünderungen und Aufstände geworden, die São Paulo vor fünfzehn Jahren in einen Hexenkessel verwandelt hatten. Das eigene Überleben – und dass er sich jetzt in Sea City befand, in der Foundation – verdankte er dem Umstand, dass Talent sucher des Philanthropischen Instituts auf ihn aufmerksam geworden waren. Als in São Paulo die Hölle losbrach, hatte er sich in einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie aufgehalten, die offenbar vom PI finanziert worden war, und man hatte ihn zusammen mit anderen ausgeflogen.
    Ein sicherer Ort, dachte Zacharias erneut und ermahnte sich damit selbst. Er musste noch viel lernen, wie Florence immer wieder betonte, und dazu gehörte auch, seine schwei fenden Gedanken unter Kontrolle zu halten.
    Er trat über die Schwelle der bereits geöffneten Tür und zog die benommene Florence sanft mit sich. Auf der einen Seite lockte ein Sicherheit verheißendes Flüstern, und sein Instinkt bestätigte, dass dort keine Gefahr drohte. Noch ein Schritt …
    Dunkelheit wich Licht. Die Sonne blinzelte durch halb geschlossene Jalousien.
    »Mistkerl«, sagte Florence.
    Zacharias drehte sich zu ihr um und nahm sie in die Arme, als sie taumelte. »Herzlichen Dank. Darf ich fragen, was ich verbrochen habe?«
    »Du? Nein, ich meine diesen Mistkerl Thorpe. Du hast ihn gehört. Ihn und Fukuroku. Teneker interessiert sie gar nicht. Es geht ihnen nur um ihren Mann von Samsung-Nippon.«
    Nicht nur der eigene Körper fühlte sich gut an, auch der von Florence in seinen Armen. Zacharias hielt sie fest, für einige Sekunden, die zu schnell verstrichen, und dann löste sich Florence vorsichtig aus der Umarmung. Sie wankte erneut, und Zacharias machte sich Sorgen um sie. Er hatte seinen Rollstuhl mit den integrierten Geräten, die seinen Körper eine Woche lang mit Nährstoffen versorgen konnten, ihn am Leben erhielten und stimulierten. Florence hingegen war auf sich allein gestellt, abgesehen von den Interface-Systemen, die es ihr erlaubten, ihn zu begleiten, und die Reisen waren für sie anstrengender als für ihn, denn ihr fehlte das echte, aktive Talent des Travellers. In den Knochen ihres Leibs und im Mark ihrer Seele steckten die Müdigkeit eines Einsatzes, der achtundvierzig objektive Stunden gedauert hatte. Zacharias wollte sie noch einmal umarmen und stützen, aber sie schüttelte den Kopf.
    »Wir müssen arbeiten, Zach«, sagte Florence, nahm das Interface-Äquivalent vom Gürtel und hakte es ans Ohr. »Alle Verbindungen sind stabil. Datenfluss konstant. Das Programm meldet Bereitschaft; Lily ist bei uns.« Erst dann sah sie sich erstaunt um und sagte: »Oh.«
    Sie standen im Behandlungszimmer, und dort lag der Patient im Bett, den die Aufgehende Sonne gebracht hatte, angeschlossen an ähnliche medizinische Geräte wie Teneker im Nebenzimmer. Die Zahlenkolonnen und Kurven auf den Monitoren waren eingefroren, der Patient völlig reglos. Ein dumpfes Brummen hing in der Luft, so tief, dass man es mehr fühlte als hörte. Thorpe, Fukuroku und Ras mussen fehlten. Am Fenster standen zwei Gestalten in blauen Uniformen, die Gesichter leer, ohne Augen, Nase und Mund.
    »Dies ist Teneker«, sagte Zacharias und vollführte eine knappe Geste, die der Umgebung galt. Er fühlte die Verbindung wie ein Band, das die Hände seines Geists ergreifen konnten. »Er ist noch nicht ganz weg. Die Lebenserhaltungsmaschinen halten einen Teil von ihm an diesem Ort fest.«
    »Hast du nicht versucht, eine Verbindung mit dem Mann herzustellen?« Florence deutete auf die Gestalt im Bett.
    »Ja, habe ich, aber … Teneker hat uns abgelenkt.« Zacharias trat zur Tür und sah ins Nebenzimmer. Es war leer; nicht einmal ein Bett stand dort.

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