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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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»Er muss gewusst haben, dass ihm jemand folgen würde.«
    »Sieh dir das an.«
    Zacharias drehte sich um. Florence stand am Fenster, zog zwei Lamellen der Jalousie auseinander und schaute hinaus. Er ging zu ihr, vorbei an den beiden Gesichtslosen, die wie Statuen standen, und folgte ihrem Blick.
    Jenseits von Sea City erstreckte sich nicht das offene Meer, sondern eine Ruinenstadt auf dem Festland, eine urbane Landschaft aus geborstenen Wolkenkratzern, mit Trümmern gefüllten Straßenschluchten und wie Gerippe aufragenden Mauern.
    »Teneker ist immer sehr pessimistisch gewesen«, sagte Zacharias. »Vielleicht hat er sich die Zukunft so vorgestellt.«
    Florence drückte einen Knopf an ihrer Uhr, und Zacharias brauchte nicht in ihr Gesicht zu sehen, um zu verste hen, dass sie in den resoluten Modus umschaltete, trotz ihrer Schwäche. »Lily gibt uns sechs objektive Stunden, Zach. Solange wirkt die Tetranol-Dosis, die wir bekommen haben. Fangen wir an.«
    »Womit? Mit dem Patienten oder Teneker?«
    »Natürlich mit Teneker«, sagte Florence ohne zu zögern. »Er ist einer von uns, und er schwebt in Lebensgefahr, im Gegensatz zum Patienten. Um den kümmern wir uns, sobald wir Teneker in Sicherheit gebracht haben.«
    »Und anschließend nehmen wir uns Zeit für uns.« Zacharias grinste und spürte noch immer etwas von dem Überschwang, der ihn zu Beginn einer jeden neuen Reise begleitete. Ein guter Nährboden für Leichtsinn, so hatte Florence das genannt. Für Zacharias war es reine Lebensfreude, hervorgerufen von dem herrlichen Gefühl, in einem starken, gesunden Körper zu stecken, der ihm voll und ganz gehorchte.
    »Jede Menge subjektive Zeit.«
    Um sie herum erzitterten die Wände, und von den Jalousien kam ein Rasseln, als ihre Lamellen aneinanderschlugen. Hinter den beiden Uniformierten, die ihre Gesichter verloren hatten, bildeten sich die Konturen eines Gesichtes in der Wand, als drückte jemand von der anderen Seite, von draußen, den Kopf an die Mauer.
    »Lily registriert verstärkte Hirnaktivität beim Patienten«, sagte Florence.
    Zacharias beobachtete das Gesicht, das seinerseits ihn zu beobachten schien, und fragte: »Was ist mit Teneker?«
    »Nichts. Ich bekomme keine Daten. Was vermutlich bedeutet, dass sein Zustand unverändert ist. Was zeigt dein Radar an, Zach?«
    Er schickte ein Ping hinaus, wie es die Traveller nannten, einen rufenden Gedanken, bekam jedoch kein Echo. Das Gesicht in der Wand verzog die Lippen zu einem Lächeln und verschwand mit einem leisen Knistern.
    Stille breitete sich aus, schluckte selbst das dumpfe Brummen und kroch in alle Winkel des Zimmers. Draußen schoben sich Wolken vor die Sonne über Sea City und der Ruinenstadt, und es wurde dunkler im Zimmer. Schatten glitten aus den von der Stille erreichten Ecken.
    »Wer war das?«, fragte Florence leise.
    »Keine Ahnung.« Zacharias behielt die Wände im Auge und hielt Ausschau nach weiteren Bewegungen. »Teneker war’s nicht.«
    »Vielleicht eine Interferenz«, sagte Florence nach einigen weiteren Sekunden der Stille. Zu solchen Interferenzen kam es vor allem zu Beginn einer Reise, wenn Integration und Synchronisation noch nicht perfekt waren. Zacharias verglich es mit den Wellen, die ein in den Teich geworfener Stein verursachte. Wir sind der Stein, dachte er, und das Selbst des Patienten ist der Teich.
    »Also gut«, sagte Florence und klang so, als ginge sie eine innere Checkliste durch. »Was sagt dein Instinkt? Wie riecht dieser Ort? Wo sind die Übergänge?«
    Zacharias trat in die Mitte des Zimmers, drehte sich dort langsam um die eigene Achse und atmete langsam durch die Nase ein. »Der Ort riecht bitter«, sagte er. »Abgestanden, nicht belüftet, wie ein Keller.« Er hob den Kopf. »Wie ein Schlupfloch.«
    »Aber er ist nicht hier?«
    »Nein.« Zacharias hob die Hände und betrachtete sie, als könnten sie ihm einen Hinweis geben.
    »Lass dich nicht von deinem Körper ablenken, Zach«, mahnte Florence. »Konzentrier dich auf deine Gabe. Sieh mit den inneren Augen. Was siehst du?«
    Zacharias schloss die Augen und sah … einen großen Saal, wie in einer Bibliothek. Auf der anderen Seite dieses Saals stand ein breiter, wuchtiger Schreibtisch aus dunklem Holz, und dort saß ein junger Mann, kaum zwanzig, das dunkle Haar zerzaust. Nur seine rechte Hand bewegte sich, hielt einen Stift und führte ihn geduldig über Papier. Die Entfernung betrug mehr als fünfzig Meter, aber das innere Auge zeigte Zacharias alle

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