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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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monotones Lied.
    »Penelope lebt nur noch, weil sie an diese Maschinen angeschlossen ist. Weil wir sie nicht sterben lassen«, sagte Rasmussen. Es klang traurig, stellte Thorpe fest. »Wo ihr Geist ist …« Er zuckte die Schultern.
    »Sie hat einen Schock erlitten, nicht wahr?«, fragte Thorpe und sah auf die junge Frau hinab. Penelope Ayyad, geboren in Tel Aviv vor fünfundzwanzig Jahren, kurz vor der Überflutung der Stadt, dachte Thorpe. Tochter eines Palästinensers und einer Israelitin, noch dazu einer ehemaligen Offizierin in der israelischen Armee; das war erstaunlich genug. Ihr dunkles Haar lag auf dem Kissen ausgebreitet. Sie schien zu schlafen. Wie Dornröschen, ertappte sich Thorpe bei einem der absurden Gedanken, die ihm manchmal kamen. Aber wer und wo ist der Prinz, der sie wachküsst? Und an welcher Spindel hat sie sich gestochen?
    »Um ganz ehrlich zu sein … Wir wissen nicht genau, was mit ihr passiert ist«, sagte der Mann mit dem grauen Voll bart, der sich in seiner Vaterrolle für die Gemeinschaft der SGPs wohlfühlte. »Bei ihrem damaligen Einsatz hätte es eigentlich nicht zu Problemen kommen dürfen, aber plötzlich starb der Patient an einem Hirninfarkt.«
    »An einem Hirninfarkt? So was gibt es?«, fragte Thorpe. Er wusste natürlich Bescheid – er kannte die Kranken geschichte und verstand die medizinischen Details –, aber manchmal schadete es nicht, sich ein bisschen dumm zu stellen.
    »Der Patient erlitt einen Ischämischen Schlaganfall«, sagte Rasmussen. »Es ging alles sehr schnell. Wir haben versucht, Penelope zurückzuholen, aber das gelang nicht. Seitdem ist ihre Seele verschollen.«
    Eine verschollene Seele, dachte Thorpe. Mein Gott, wie das klingt!
    »Und die … Stigmatisation?«, fragte er mit einem freund lichen Lächeln. Immer freundlich lächeln, das gehörte dazu. Vorsichtig ergriff er Penelopes kleine Hand und achtete darauf, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Aus irgendeinem Grund hatte er damit gerechnet, dass sie kalt war, aber sie erwies sich als erstaunlich warm. Innen, fast genau in der Mitte, gab es einen Fleck. Thorpe deutete erst darauf und dann auf die wie schlecht verheilte Kratzer aussehenden Male an der Stirn. »Nägel in den Händen, eine Dornenkrone an der Stirn …«
    »Die Verfärbungen sind zweifellos psychogener Natur«, sagte Rasmussen. »Penelope stammt aus einem sehr religiös geprägten familiären Umfeld.«
    Thorpe dachte über diese Worte nach. »Ich nehme an, Sie sind nicht besonders religiös, Jonas, oder?« Auch diesmal vergaß er das freundliche Lächeln nicht.
    Rasmussens Miene umwölkte sich kurz. »Der Mensch hat Gott erfunden, und wen wundert es da, dass Gott den Menschen im Stich gelassen hat. Die Welt steuert auf eine Katastrophe zu, Mr. Thorpe, und wenn es einen Gott gibt, sieht er tatenlos zu.«
    »Kommt darauf an.« Thorpe deutete auf die junge Frau im Bett, auf das schlafende Dornröschen. »Vielleicht ist dies Seine Antwort.«
    »Penelope?«
    »Sie und die anderen. Vor ein paar Tagen, kurz nach mei nem Eintreffen, haben Sie von Evolution gesprochen, Jonas, und davon, dass die sogenannten Traveller eine Antwort der Evolution auf das Ende der uns vertrauten Welt darstellen könnten. Wer weiß? Vielleicht steckt Seine Hand dahinter.« Er fügte diesen Worten ein weiteres Lächeln hinzu, damit Rasmussen ihn nicht für einen Fundamentalisten hielt. »Üb rigens …«, sagte er dann. »Wenn Sie recht haben, und daran zweifle ich nicht, gibt es noch Hoffnung für Penelope. Wenn diese Male tatsächlich psychogener Natur sind, so muss noch ein Geist da sein, der sie geschaffen hat, nicht wahr?«
    Eine Zeit lang schwiegen sie beide und sahen auf Penelope hinab.
    »Darf ich Sie etwas fragen, Mr. Thorpe?«
    »Aber natürlich, Jonas. Fragen Sie, fragen Sie nur.«
    »Warum sind Sie hier, Mr. Thorpe? Warum hat Sie das Philanthropische Institut zu uns geschickt?«
    »Das sind zwei Fragen, mein lieber Jonas.« Thorpe lachte gedämpft. Er hatte natürlich mit einer solchen Frage gerechnet; die Worte lagen bereit. »Dies sind schwere Zeiten, Jonas. Die Welt verändert sich, und nicht zum Besseren. Die Zukunft der Menschheit steht auf dem Spiel. Überall steigt das Wasser, von den Unwettern, die sich im Innern der Kontinente austoben, ganz zu schweigen. Wir stehen am Abgrund, und mit ›wir‹ meine ich unsere Spezies, nicht unsere Zivilisation. Deren Untergang steht bereits fest.« Er bemerkte Rasmussens erschrockenen Blick.

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