Seelenfänger
verband ihn mit Florence, und er nahm sie mit, was inzwischen zu einem automatischen Reflex geworden war, einem Instinkt. Bisher hatte er noch keine Gelegenheit gefunden, sich eingehender mit diesem Aspekt des Transfers zu befassen, der ihm den Eindruck einer seltsamen Einheit vermittelte, als wären Florence und er für mehrere subjektive Sekunden miteinan der verschmolzen, nicht ein Leib, aber eine Seele, wie zwei am Himmel des Geistes ineinandergleitende Wolken. Dass sie nicht auf diese Weise empfand, wusste er inzwischen; für sie bedeutete der Übergang vor allem Benommenheit, geschaffen vom Tetranol, und dann folgte oft eine kurze Phase der Verwirrung, während sich ihre Wahrnehmung – die vom Gehirn geschaffenen Perzeptionsfilter – mit den von Lily und dem Travel-Programm bereitgestellten Daten verbindungen einerseits und andererseits dem »Space«, Zacharias’ Interpretationen fremder Gedankenwelten, synchronisierten. Für ihn hingegen war es wie eine neue Geburt, und das Tetranol schmierte den Geburtskanal, machte es ihm leichter, gab ihm mehr Kontrolle. Das war ein wichtiger Unterschied: Er konnte die Tür allein öffnen, während sie für Therapeuten – Reisebegleiter – wie Florence ohne Interface, Tetranol und einen Traveller, der die Führung übernahm, verschlossen blieb. Man musste sie nur finden, die Tür. Manchmal fiel es schwer, weil sie in Schatten verborgen blieb, und auch in diesem Fall half Tetranol, mit ein wenig Licht. Oder sie tarnte sich, gab sich nicht als Tür zu erkennen, und dann musste Zacharias suchen, bis er sie fand. Manche Traveller taten sich schwer damit, doch bisher hatte er nie lange suchen müssen, was vielleicht an dem lag, was Florence und die Ärzte »primäre Begabung« nannten, an einem besonderen Sinn, wie ein zusätzliches, inneres Auge, und einer Hand, die dem Blick dieses Auges folgen und berühren konnte, was es sah, und einem Körper, der wiederum der Hand folgte, einem Körper, der dem Geist gehorchte, von ihm geformt werden konnte und kein nutzloses Anhängsel war, das künstlich ernährt werden musste.
Wir brauchen einen sicheren Ort, um uns zu orientieren, dachte er. Dies könnte gefährlich werden. Doch noch während er dies dachte und sich die subjektiven Sekunden des Übergangs in die Länge zogen, erinnerte er sich an das erste Mal, an die erste Tür, die er mit seinem inneren Auge gefunden hatte. Er hatte es damals für einen Traum gehalten, sich mit einem Körper zu bewegen, der nicht seiner gewesen sein konnte, weil er größer war, mit längeren Armen und Beinen. Er hatte die Bettdecke zurückgeschlagen und war aufgestanden, durch ein dunkles Zimmer gegangen, mit Beinen, die sich stärker anfühlten als seine eigenen. Im Flur hat te er den vertrauten Teppich unter den nackten Fußsohlen gefühlt, aber irgendwie anders als sonst, und vor der nach unten führenden Treppe war er stehen geblieben und hatte in den dort an der Wand hängenden Spiegel gesehen.
Aus dem Spiegel hatte ihn das Gesicht seines größeren Bruders Alexander angestarrt.
Zacharias war damals so erschrocken, dass er zurücktaumelte und fiel, die Treppe hinunter. Und dann war er in seinem eigenen Körper aufgewacht, in einem von den Anfängen der Krankheit geschwächten Körper, hatte im Bett gesessen und unten die Stimmen gehört, aufgeregte Stimmen, die ihm zu verstehen gaben, dass etwas passiert war. Und kurze Zeit später war seine Mutter ins Zimmer gekommen und hatte ihm mitgeteilt, dass Alexander die Treppe hinuntergefallen war und sich dabei das Bein gebrochen hatte.
Den Rest der Nacht hatte Zacharias wach gelegen und sich davon zu überzeugen versucht, dass ihn keine Schuld traf.
Der fast zwanzig Jahre ältere Zacharias, von ALS an den Rollstuhl gefesselt, wusste, dass er damals sehr wohl schuldig gewesen war, zumindest am Sturz seines Bruders die Treppe hinunter. Nicht aber an dem Autounfall, dem Alexander einen Monat später zum Opfer gefallen war. Damit hatte er nichts zu tun. Es war ein Zufall gewesen, eines jener Ereignisse, bei dem sich jemand zur falschen Zeit am falschen Ort befand. So etwas kam vor; es geschah einfach.
Seine Eltern, seine kleine Schwester Patrizia mit den großen blauen Augen und den goldenen Locken … In seinen Erinnerungen sah sie aus wie ein vom Himmel gefallener Engel. Aber wenn das stimmte, wenn sie wirklich vom Himmel gefallen war, so hatte sie dafür ebenfalls die falsche Zeit und den falschen Ort gewählt, wie Alexander, mit dem
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