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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Einzelheiten des Gesichts, die fast mädchenhaft zarten Züge des Philippiners, die schmale Nase und vollen Lippen, und mit dem inneren Ohr hörte er das Kratzen des Stifts auf dem Papier so deutlich, als stünde er direkt daneben.
    »Jetzt habe ich etwas auf dem Radar«, sagte Zacharias. »Teneker hat ein Bild von sich zurückgelassen.« Er deutete zur Tür. »Dort.«
    Hinter der offenen Tür erstreckte sich nicht mehr der vertraute Flur, sondern ein Bibliothekssaal, an den Wänden Schränke und Regale, die bis zur hohen Decke reichten. Bibliothekstreppen ermöglichten es, auch die Bücher ganz oben zu erreichen.
    Der staubige, leicht muffige Geruch, den Zacharias zuvor wahrgenommen hatte, passte eher zu diesem Raum, der den Eindruck erweckte, schon seit Langem keine Besucher mehr empfangen zu haben, abgesehen von dem schmächtigen Mann am Schreibtisch, der unentwegt schrieb und nicht aufsah, als sich Zacharias und Florence näherten. Vor ihm stand ein schmiedeeiserner Halter mit einer Kerze, die ruhig und gleichmäßig brannte, ohne dass ihre Flamme ein einziges Mal flackerte.
    »Die Synchronisation ist gut«, sagte Florence. Sie schritten durch den Saal, über einen alten, verblichenen Teppich, der das Geräusch ihrer Schritte dämpfte. »Die objektive Zeit entspricht der subjektiven.«
    »Teneker?«, fragte Zacharias, als sie den Schreibtisch erreichten.
    Der junge Mann mit dem zerzausten Haar sah nicht auf. Nur seine rechte Hand bewegte sich, und der Stift kratzte übers Papier. Zacharias trat hinter den Schreibtisch, um über Tenekers Schulter zu sehen, woraufhin die Hand ver harrte; der Stift rutschte langsam zur Seite, blieb neben dem Zeigefinger liegen.
    Florence beugte sich vor. »Das Blatt ist leer.«
    »Nein, ich glaube nicht. Spürst du das?« Zacharias horchte, und das Knistern, das sie im anderen Zimmer beim Verschwinden des Gesichts gehört hatten, wiederholte sich, begleitet von einer Vibration, die sich in den Wänden ausbreitete, auch den Boden und die Decke erfasste. »Etwas will verhindern, dass wir lesen, was Teneker geschrieben hat.«
    »Was?«
    »Ich weiß nicht.« Behutsam zog er das Blatt unter der Hand des Reglosen hervor, und als er dabei die Finger berührte, entstand eine matte, jadegrüne Fluoreszenz, die Tenekers Arm hinauflief und innerhalb von zwei oder drei Sekunden über den ganzen Körper wanderte. Es roch plötzlich nach Ozon, und aus der Ferne kam ein Rauschen, wie von Wind in hohen Baumwipfeln, oder wie von einem nahen Ozean.
    Zacharias hielt das Blatt ins Licht der Kerze, deren Flamme sich langsam von einer Seite zur anderen neigte, wie ein Halm im Wind, und dann wieder ruhig und stetig brannte. Erste Zeichen erschienen auf dem Papier, wirre Schnörkel, die keinen Sinn ergaben. Zacharias konzentrierte sich darauf.
    Der Boden unter seinen Füßen zitterte, und die Kerzenflamme flackerte in einem Windstoß, den nur sie zu spüren bekam.
    Weitere Zeichen erschienen auf dem Blatt Papier, tauchten auf wie aus einer Tiefe darunter, die sie festzuhalten versuchte.
    »Dies ist eine …« Die Striche bewegten sich wie kleine Schlangen, wie Würmer, die danach trachteten, sich durchs Papier zu fressen und die Freiheit darunter zu erreichen. Zacharias hielt sie mit seinem Willen fest und zwang sie zurück in die Form, die ihnen die Hand des Schreibenden gegeben hatte.
    »Dies ist eine Warnung«, las er laut, während Florence mit ihrem Interface-Äquivalent alles für Lily und die Daten spezialisten der Foundation aufzeichnete. »Wen auch immer Jonas schickt, um mich herauszuholen: Kehrt um. Es ist eine Falle.«
    »Eine Falle?«, fragte Florence.
    Die Kerzenflamme flackerte erneut und tanzte, als wollte sie sich vom Docht lösen. Zacharias blickte aufs Papier und weitere Worte erschienen. »Der Mann, dieser Haruko, er ist ein Köder. Er …«
    Die nächsten Schriftzeichen flogen auseinander, als bestünden sie aus Staub, den plötzlich jemand fortpustete. Im nächsten Augenblick sprang die Kerzenflamme zum Papier, das sofort Feuer fing. Zacharias ließ es fallen, auf Tenekers Hand, neben der noch immer der Stift lag, und sie begann ebenfalls zu brennen. Weitere Flammen entstanden, heiß und hungrig, fraßen sich – wie zuvor die grüne Fluoreszenz – über Tenekers Arm, erfassten Schulter und Haar.
    Zacharias wich zurück. »Es ist nur ein Bild von ihm«, sagte er, als wäre ein solcher Hinweis nötig.
    Der Boden unter ihm bebte so heftig, dass er schwankte und Florence sich am

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