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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Enhancement.
    Über den Wohnblocks, Kaufpalästen und Geschäftstür men wölbte sich ein Himmel wie aus Silber.
    »Eine Kuppel«, sagte Florence. »Diese Stadt befindet sich unter einer Kuppel, und dort oben glitzert das Meer.«
    »Die Japaner wollten so etwas basteln«, erinnerte sich Zacharias. »Ihre Lösung für das Problem der Großen Flut. Hier ist es ihnen gelungen.« Er deutete nach oben. »Das Licht ist recht hell. Ich schätze, die Stadt befindet sich in einer Tiefe von einigen Dutzend Metern. Eine größere Tiefe wäre auch kaum möglich, weil der Druck dann zu groß wird, und das Licht zu schwach.«
    Er betrachtete die Schriftzeichen auf den Werbetafeln an den Hauswänden der anderen Straßenseite. Kanji, flüsterte es in ihm. Es fühlte sich wie eine Erinnerung an, wie etwas, das er immer gewusst hatte. In Wirklichkeit waren es Informationen, die er vom kleinen Computersystem des Rollstuhls empfing, das als eine Art externes Gedächtnis funktionierte und nicht annähernd so viele Daten übertragen konnte wie der direkte Datenbankanschluss mit hoher Bandbreite, der Florence mit Lily verband. Eine derarti ge Verbindung kam für ihn nicht infrage, denn er war der Traveller; er durfte nicht abgelenkt werden, musste den Kontakt mit dem Bewusstsein des Patienten stabil halten. »Kanji-Logogramme«, sagte er. »Wir sind in Japan.«
    »Tokio.« Florence deutete die Straße hinauf, zu einem Bau werk, das sich von den anderen unterschied. »Der wiederaufgebaute Hauptturm der Burg Edo.«
    »Die Burg Edo«, sagte Zacharias und fasste seine Pseudo-Erinnerungen in Worte, während Florence vermutlich weitaus detailliertere Informationen von Lily empfing, »war die größte Burg Japans und Sitz des Tokugawa-Shoguns. Sie wurde im Jahr 1607 errichtet, doch 1657 fiel der Hauptturm einem verheerenden Feuer zum Opfer, das den größten Teil der Burg zerstörte. Später baute man dort, wo einst die Burg Edo stand, den Kaiserlichen Palast. Der Wiederauf bau des Hauptturms erfolgte viel später, kurz vor der Ersten Flut. Wenn ich mich recht entsinne, wurde schon damals ein großer Teil von Tokio überschwemmt. Die Zweite Flut ließ nicht viel von der Stadt übrig; der nächste Taifun zerstörte den Rest, auch den neuen Hauptturm.«
    Doch dort erhob er sich erneut, auf einem kleinen Hügel unter der silbrigen Kuppel, zu erreichen über eine brei te Treppe, weiß wie Schnee: ein breiter, massiver Sockel aus graubraunen Quadern, darüber fünf Etagen, wie übereinandergelegte schwarze und weiße Dächer, gekrönt von einer goldenen Spitze. Die dunkle Straße teilte sich vor ihm: Drei Fahrspuren führten rechts am Hügel vorbei, drei weitere links.
    »Ist es das?«, fragte Zacharias nachdenklich. »Ist der Patient deshalb so wichtig? Gehört er vielleicht zu den Entwicklern dieser Kuppel? Sie muss aus einem besonderen Material bestehen, um den Druck auszuhalten, und ihr eigenes Gewicht. Vielleicht interessieren sich Konkurrenten für die Substanzformel oder eine Lösung der statischen Probleme.«
    Ein kleiner Junge, sechs oder sieben Jahre alt, blieb vor ihnen stehen, sah zu Zacharias auf und streckte die Zunge aus.
    »Was machst du denn da?«, fragte die Mutter des Knaben. »Was soll das, Ichiro? Warum streckst du die Zunge heraus?«
    »Weil der Mann dumm ist«, antwortete der Junge mit der Stimme eines Erwachsenen. »Und die Frau ebenso. Weil sie nicht auf die Warnung gehört haben.«
    Die Frau schüttelte den Kopf und zog den Jungen mit sich. Nach wenigen Metern verschwanden sie beide in der Menge der Fußgänger.
    »Eine erste Interaktion«, sagte Florence. »Hast du mit der Integration begonnen, Zach?«
    »Nur das Nötigste, damit wir beobachten können, was geschieht. Was ist mit der Synchronisation?«
    »Noch immer gut«, sagte Florence. »Flacher Ereigniswinkel. Kaum Abweichungen zwischen objektiver und subjektiver Zeit.«
    »Na schön. Machen wir uns auf die Suche. Beginnen wir mit einem vorsichtigen Ping.« Sie standen noch immer mit dem Rücken zur Mauer, aus der sie herausgetreten waren, und dort blieben sie stehen, während Hunderte von Elektro wagen über die breite Straße summten, zahlreiche Fußgän ger an ihnen vorbeieilten und über ihnen ein silberner Him mel glänzte, der aus einer Kuppel und mehreren Dutzend Metern Meer darüber bestand. Zacharias schickte einen Gedanken in die Stadt vor ihnen und rief mit der gedämpften Stimme seines Geistes: Teneker, wo bist du? Kannst du mich hören?
    Er bekam keine

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