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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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es möglich und nötig gewesen wäre, um dem Tod zu entgehen. Er spürte bereits ein Stechen im Rücken und fragte sich, ob es ein Phantomschmerz war, hervorgerufen von seinen Erwartungen.
    Die Lösung war da: sauber und elegant, aber nicht sehr gnädig, weder Florence noch ihm selbst gegenüber. Wer von ihnen würde mehr leiden? Eine müßige Frage, entschied er, bestimmt von individueller Sicht, die das große Ganze außer Acht ließ.
    Und dann kam er, der Schmerz: kein Stechen mehr, sondern ein heißes Brennen, das bestrebt zu sein schien, den Oberkörper in Asche zu verwandeln. Mit ihm kam ein Stoß, der ihn nach vorn warf, der ihn schneller machte, obwohl die Geschwindigkeit jetzt keine Rolle mehr spielte, denn er war bereits getroffen. Dort war das Glas, dahinter das Hügelland von Zuflucht, eine grüne Welt mit angenehmem Aroma, in ihren Wäldern der Geruch von Harz. Dort glänzte das silberne Band des langsam fließenden Flusses, gespeist von den drei Wasserfällen in der Ferne. Dort erstreckte sich die Lichtung mit den ersten Hütten, erdacht von den geflohenen Travellern und Legaten. Und dort stand Florence, etwa ein Dutzend Meter vom Übergang entfernt, klein und zierlich, aber stark, das wusste Zacharias; sie hatte ihre Stärke mehrmals bewiesen. Diesmal muss sie besonders stark sein, dachte er, als das imaginäre Geschoss einen Tunnel durch ihn grub, Gewebe und Knochen zerriss, sich dem Herzen näherte. Die ausgestreckten Hände berührten das Glas, das kein Glas war.
    Ein Spiegel spiegelt, dachte Zacharias. Dieser Spiegel musste ihn spiegeln und dabei das Leben vom Tod trennen. Er stellte es sich vor, als das Geschoss die äußeren Gewebeschichten des schlagenden Herzens erreichte. Er stellte sich vor, wie das Spiegelbild beim Durchdringen der Membran zwischen Prisma und Zuflucht nicht verschwand, sondern sich vom Original trennte, wie die kausale Beziehung zwischen Ursache und Wirkung aufhörte, weil er es so wollte, weil er die Regeln bestimmte . Er stellte sich vor, wie Original und Spiegelbild unabhängig voneinander existierten, und er stellte sich vor – dies war wichtig, dies war der entscheidende Punkt –, wie die Kugel aus Kronenbergs Hand in das Spiegelbild überging, wie sie ihn verließ, wie sie aus ihm verschwand, wie Knochen und Gewebe wieder zusammenwuchsen, nein, wie sie wieder heil waren, als hätte nichts ihre Integrität gestört.
    Das Original wurde zum Beobachter, die Kopie zum Akteur.
    Zacharias hing im Transferknoten, ein wenig abseits der Verbindung zwischen Prisma und Zuflucht, und seine Augen sahen beide Welten, während der Schmerz in Rücken und Brust nachließ. Er atmete, auch wenn es hier, zwischen den Welten, keine Luft gab, und sein Herz schlug, obwohl der Körper zumindest an diesem Ort nur ein gedankliches Konstrukt war, eine Krücke des Geistes.
    Ein Sterbender braucht die Nähe des Todes nicht zu simulieren, dachte er und beobachtete, wie er starb, im Spiegel, für beide Seiten sichtbar. Er beobachtete das Entsetzen in Florences Gesicht, als sie sich umdrehte und zum Übergang zurücklief, als sie die Hände ausstreckte und versuchte, den Sterbenden zu erreichen, der den Übergang blockierte und dadurch nicht zu erreichen war.
    Das war der Trick innerhalb des Tricks: Zacharias, im Spiegel gefangen, gestorben beim Übergang von der einen in die andere Welt. Florence hämmerte verzweifelt gegen etwas, das von ihrer Seite wie ein dunkles Fenster aussah, und in Prisma stand Kronenberg vor dem Spiegel, betrachtete zufrieden sein Werk, hob die Hand, seine Waffe, und blies imaginären Rauch vom Zeigefinger.
    Es blieb nur noch eins zu tun.
    Zacharias warf einen letzten Blick auf Florence, die Augen und Mund aufgerissen hatte und schrie, ohne dass er ihre Schreie hörte. Er dachte an ihren Schmerz, schlimmer als jener, der ihm den Rücken aufgerissen und die Kopie in den Tod begleitet hatte.
    Wir sehen uns wieder, sagte er ihr, obwohl sie ihn nicht hören konnte, und obwohl er nicht wusste, ob er imstande sein würde, dieses Versprechen zu halten.
    Dann streckte er die Hand aus, berührte den Spiegel ganz oben und wollte , dass er zerbrach.
    Haarfeine Risse breiteten sich in ihm aus, bildeten zahlreiche Verästelungen, und dann platzte der Spiegel, wie von einem Geschoss getroffen. Wie von Kronenbergs Projektil. Sollte er annehmen, dass sein letzter Schuss nicht nur Zacharias getötet, sondern auch den Übergang zerstört hatte, und mit ihm den Weg nach Zuflucht. Ob er es

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