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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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tiefen Brummen, dem Ächzen einer sterbenden Welt, und Zacharias versuchte sich vorzustellen, was Lilys Worte bedeuteten.
    »Eigentlich liegt es auf der Hand«, sagte Lily, den Blick auf die violette Spirale des Wahrheitszentrums gerichtet. »Ich wundere mich über mich selbst, dass ich nicht sofort darauf gekommen bin. Ja, mein lieber Zacharias, ich gebe zu, beschämt zu sein.«
    »Weil Salomo wie eine Maschinenintelligenz gedacht hat, ist es dir nicht gelungen, wie ein Mensch zu denken?«
    Lily drehte den Kopf und sah ihn groß an. »Das ist erstaunlich scharfsinnig, Zacharias. Ja, du hast recht, darauf läuft es hinaus. Ich bin davon ausgegangen, dass Salomo die kreative Kraft all der von ihm entführten Traveller und Legaten braucht, um Lassonde und das Weltennetz umzugestalten, um die Struktur dessen, was du ›Space‹ nennst, seinen Vorstellungen anzupassen.«
    »Um Gott zu spielen«, murmelte Zacharias und dachte: Eine heilige Mission …
    »Ja, in gewisser Weise. Aber mit einem Reset konnte Salomo viel mehr erreichen. Virtuelle Realität und Space sind hier eins, Zacharias, untrennbar miteinander verwoben. Wenn sich das eine verändert, so verändert sich auch das andere, denn für die Gedanken der Menschen, für ihr Fühlen und ihre Wahrnehmungen, gibt es hier längst keinen Unterschied mehr zwischen dem einen und dem anderen.«
    Zacharias nickte und beobachtete die Blutspritzer zwischen der Frau mit dem Messer und dem grauen Soldaten mit der Projektilwaffe und dem halb abgetrennten Kopf. Er stellte sich vor, wie er selbst versuchte, Einfluss auf diesen kleinen Teil der wahrgenommenen Realität zu nehmen. Er stellte sich vor, im Unterbewusstsein eines Patienten unterwegs zu sein und ein Trauma zu entfernen, eine Erinnerung wie eine schwärende Wunde im Geist. Er hatte zusammen mit Florence mehrere Einsätze dieser Art hinter sich gebracht und wusste, wie schwer es war, vorhandene Erinnerungsstrukturen zu verändern – manch mal war es schwierig genug gewesen, eine Tür zu öffnen, von der der Patient wollte, dass sie geschlossen blieb. Aber hier ging es nicht um Türen, sondern um Dutzende, Hunderte von Welten , jede einzelne von ihnen mit einer Komplexität, die das menschliche Vorstellungsvermögen überstieg. Das menschliche , aber nicht das von intelligenten Maschinen, die imstande waren, alles in Bits und Bytes auszudrücken, die nie den Überblick verloren. Man setze die Programme zurück, die die innere Struktur dieser Welten bestimmten, man verändere einige zentrale Algorithmen, man füge hier und dort Variablen hinzu, die man nach Belieben beeinflussen konnte, und man bekam …
    »Eine Hintertür«, sagte Zacharias. »Eine Backdoor.«
    »Ich bin sicher, Matthias hätte es sofort erkannt«, sinnierte Lily.
    »Aber etwas hat nicht ganz so geklappt, wie Salomo es sich gewünscht hat.« Zacharias beobachtete noch immer die beiden Kämpfer und fragte sich, ob er in der Lage gewesen wäre, dieses Bild in den Ausgangszustand zurückzuversetzen. Es hätte bedeutet, Sterbende ins Leben zurückzuholen, ihre Wunden zu schließen, etwas ungeschehen zu machen, das bereits geschehen war. Es wäre möglich gewesen, wenn es sich um Erinnerungen gehandelt hätte, um einen Traum, aber dies hier – Lassonde, angeblich die einzige wahre Realität, und all die anderen Welten – war viel mehr. Und doch … Wenn er mit seiner Traveller-Gabe auf eine Grundstruktur zugreifen konnte, auf eine Art Pressform für die wahrgenommene Wirklichkeit, und wenn er imstande war, diese Pressform zu verändern, damit sie an einer ganz bestimmten Stelle einen anderen Druck auf das Muster der Welt ausübte … Damit ließe sich alles verändern, und zwar ohne große Anstrengung. Etwas Druck mit viel Wirkung.
    In diesem Fall bestand die Pressform aus den Algorithmen von Programmen, und Salomo hatte sich mit einer Backdoor Zugang dazu verschafft.
    Aber etwas war schiefgegangen, denn in Lassonde regte sich nichts mehr.
    »Der Reset hat funktioniert«, sagte Lily. »Die anderen Maschinenintelligenzen sind nicht mehr aktiv. Sie ruhen, wie diese Welt. Sie warten auf den Neustart der Programme.«
    Zacharias stellte die offensichtliche Frage und ahnte die Antwort. »Warum hat Salomo sie nicht gestartet, mit den von ihm gewünschten Änderungen?«
    Der Alte zuckte mit den schmalen Schultern. »Vielleicht kann er es nicht. Oder er hat noch nicht alle Veränderungen vorgenommen.«
    »Das bezweifle ich«, sagte Zacharias.
    »Ach?«
    »Wenn Salomo

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