Seelenfänger
Wahrheitszentrum in der Ferne, griff mit seinen Gedanken ins Grundmuster von Lassonde – in die Pressform, die dieser Welt Gestalt gab – und schuf eine Tür, die sich bereitwillig für ihn öffnete. Ein Schritt trug Zacharias über die Schwelle und brachte ihn zum Seelenfänger.
37
W issen und Wahrheit hingen in derzähen Luft, wie eingewoben in den violetten Kristall des Gebäudes, das sich neben dem geborstenen Turm in die Höhe schraubte, den zerrissenen Gespinsten von Oberstadt entgegen. Zacharias fühlte es, als er Rampen und Treppen hochging, vorbei an Nischen, in denen erstarrte Lassonder saßen – Terminals eines gewaltigen Rechenzentrums, geleitet und verwaltet von dem »Orakel« weiter oben. Er spürte die Daten und Informationen wie ein Prickeln in der Luft, und er glaubte auch ihren Geruch wahrzunehmen, aromatisch wie Ingwer, ein Ergebnis seiner Synästhesie. Das innere Radar zeigte Chaos, und die von ihm ausgesandten Pings brachten Tausende von Echos, die zu einem heillosen Durcheinander verschmolzen, zu einer schrillen, kreischenden Dissonanz im dumpfen Todesbrummen von Lassonde. Den noch ergab alles einen Sinn, und Zacharias stellte fest, dass ihm trotz der Melange aus synästhetischen Eindrücken, emotionalen Impressionen und rationalen Bewertungen die Orientierung überraschend leichtfiel. Er wusste, wo er war, er kannte sein Ziel, und er sah den Weg vor sich.
Eine heilige Mission, dachte er und fühlte sich den Antworten auf seine Fragen nahe.
Das Grundmuster der Welt begleitete ihn nun, bei jedem Schritt, bei jedem Atemzug, bei jedem Gedanken. Es er schien immer dann, wenn er die inneren Augen öffnete, wie eine Collage aus zahlreichen übereinandergelegten Bildern. Er selbst war Teil von ihnen, ein Pixel unter Milliarden anderen, mit ihnen verbunden und doch unabhängig, denn er bewegte sich, während die anderen reglos blieben. Er konnte jedes von ihnen berühren, es drehen und von allen Seiten betrachten, ihm einen Platz im großen, ganzen Bild geben und es dadurch verändern. Waren es Bits und Bytes, die er da sah? Vielleicht. Und wie sollte man die elemen taren Informationseinheiten nennen, aus denen die Ge dankenwelten des Space bestanden? Hier war beides eins, verschmolzen zu den Grundbausteinen einer Welt namens Lassonde.
Auf einer Stufe, mitten in einer Kurve, die zur Etage mit dem Orakel führte, blieb Zacharias stehen, betrachtete die bunten fraktalen Muster und fragte sich, ob er mehr sah als nur die Pressform von Lassonde. Vielleicht waren selbst diese miteinander verbundenen, verschachtelten und vernetzten Bilder nur ein kleiner Ausschnitt eines noch viel größeren Bildes, das den Hauptstrang betraf, oder gar das ganze bisher existierende Weltennetz, mit mehr Pixeln als Sandkörnern an einem zehntausend Kilometer langen Strand. Und er konnte sich jedes einzelne von ihnen ansehen, wenn er wollte, er konnte sie zu sich rufen und sie betrachten, um sie anschließend dorthin zu setzen, wo er es für richtig hielt.
Für einen Moment wurde ihm schwindlig, als er begriff, welche Möglichkeiten ihm zu Verfügung standen, denn viele dieser Pixel gehörten lebenden Geschöpfen, Menschen mit Träumen und Hoffnungen, und wenn er ihre Pixel, ihre Grundbausteine, an eine andere Stelle setzte, so veränderte er ihre Gedanken und Gefühle, ihre Realität. Zwei oder drei Sekunden stand Zacharias reglos da, nicht von einem unvollständigen Reset gelähmt, wie alles um ihn herum, sondern vom Rausch der Macht. Pläne innerhalb von Plänen, dachte er. Welten innerhalb von Welten, und Gedanken innerhalb von Gedanken. Wo fing es an, wo hörte es auf? Er konnte sich selbst zum Dreh- und Angelpunkt machen, zum Mittelpunkt nicht einer Welt, sondern vieler, und in einem Moment der Klarheit begriff er, dass dies das wahre Gift für die Seele war: das Gefühl, alles tun und schaffen zu können, in der Lage zu sein, jede noch so absurde Fantasie auszuleben. Es war das Gefühl, in die Rolle eines Gottes zu schlüpfen.
Zacharias hatte die richtige Tür in seinem Kopf geöffnet, aber dahinter wartete nicht nur Licht auf ihn, sondern auch jede Menge Dunkelheit. Und der Weg, den er jetzt beschrei ten musste, lag halb ihm Schatten. Ein unvorsichtiger Schritt, und er geriet auf die falsche Seite. Etwas stach in ihm, ein unerwarteter Schmerz, und er begriff plötzlich, wie sehr ihm Florence fehlte. Sie hätte ihm guten Rat geben können, nicht nur als Therapeutin und Kognitorin.
Aber wenigstens war sie in
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