Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
Vom Netzwerk:
wird es schnell gehen .
    Sein Instinkt verlangte nach Flucht, und er sprang, ohne sich von der Stelle zu rühren.

38
    Z acharias schwankte, wie von dem Wind erfasst, der auf der anderen Seite des Fensters fauchte und Regentropfen gegen die Scheiben warf. Ihm steckte, so wusste er, ein Sprung in den Gliedern, den er nicht seinen Muskeln verdankte, sondern einem Gedanken, und er war nicht einmal sicher, ob dieser Gedanke wirklich von ihm stammte.
    »Lily?«, fragte er leise. Wie viel kontrollierte sie? Aber er bekam keine Antwort, weder auf die erste noch auf die zwei te Frage.
    Draußen heulte ein Sturm, schickte dunkle Wolken über den Himmel und peitschte die Stadt – Sea City – mit grauen Regenschleiern. Es war keine lebende Stadt, sondern eine tote, die ihre Knochen in Form von Ruinen trotzig den Böen entgegenstreckte, als kümmerte es sie nicht, noch mehr geschunden zu werden. Wasser hatte sich in Explosionskratern gesammelt, die vielleicht so tief waren, dass sie das Meer unter der schwimmenden Stadt erreichten. Hohe Wellen wogten über die Reste der zerstörten Hafenanlagen, gischteten an geborstenen Mauern vorbei durch trümmerübersäte Straßen. Nicht ein einziges Licht brannte in Sea City, aber der flackernde Schein von Blitzen riss den urbanen Kadaver immer wieder aus der Dunkelheit, zeigte Zacharias die nur noch wenige Stockwerke hohen Stümpfe einstiger Hochhäuser, die aufgerissenen Dächer von Lagerhallen, die offenen Gerippe von Kraftwerken und Produktionszentren. Hier und dort trieb der Rauch sterbender Feuer in den Regenfluten. Doch es lagen keine Leichen in den Straßen, nicht eine einzige; die Stadt schien ohne Menschen gewesen zu sein, als die Katastrophe über sie hereingebrochen war.
    Zacharias drehte sich um, spähte durch den Flur, halb in Schatten gehüllt, und fragte sich, ob dies die ihm vertraute Foundation war. Beim Blick aus dem Fenster hatte er auch mit den inneren Augen Ausschau gehalten, aber ohne das Grundmuster dieser Welt zu erkennen. Es konnte bedeuten, dass Florences Hoffnungen berechtigt waren, dass die Erde eine Realität besaß, die unabhängig von Traveller-Gedanken und den Bits und Bytes von Maschinenintelligenzen existierte. Eine zweite Möglichkeit bestand darin, dass er sich dies nur einbildete: Was er sah und hörte, konnte das Ergebnis direkter sensorischer Stimulation sein. Zacharias dachte an die Interface-Systeme des Podiums im Wahrheitszentrum. Vielleicht war es Salomo gelungen, mithilfe der von ihm kontrollierten lassondischen Denkmaschine seine Sinne zu manipulieren.
    Es gab auch noch eine dritte Erklärung, und sie lautete: Es steckte etwas in ihm, das ihn daran hinderte, das Grundmuster dieser Welt zu erkennen und es zu verändern; etwas hielt einen Teil von ihm gefangen.
    Er ging los, durch den langen Flur und vorbei an offenen Türen. Wenn das kurzlebige Licht von Blitzen durch Fenster gleißte, flohen die Schatten in Flur und Zimmern in entfernte Ecken. Donner grollte, von den dicken Fens tern gedämpft, aber abgesehen davon blieb alles still. Nicht nur die Stadt war tot, auch die Foundation lebte nicht mehr. Die Räume, in die er sah, waren leer. Dokumente lagen auf dem Boden verstreut, Stühle waren umgekippt, in einem Fall hingen Bilder schief an den Wänden. Im Eingang des Aufenthaltsraums blieb er stehen und sah auf der linken Seite, neben Küchennische und Kaffeemaschine, einen vertrauten Rollstuhl. Niemand saß darin: Kabel und Schläuche hingen über einer Armlehne und schienen darauf zu warten, mit jemandem verbunden zu werden. Sie erinnerten Zacharias daran, was er gewonnen hatte: einen zuverlässigen, funktionierenden, gesunden Körper.
    Du kannst ihn für immer behalten, wenn du willst , flüsterte es. Sie waren gut getarnt, diese Worte, sie fühlten sich nach einem eigenen Gedanken an, aber sie stammten nicht von ihm, denn seine Synästhesie funktionierte noch immer und vermittelte ihm ein Aroma, das eindeutig auf einen fremden Ursprung hinwies. Ich trage ihn in mir, dachte Zacharias. Der Seelenfänger hat meine Seele gefangen und sich in ihr niedergelassen. Ich habe seine Schlange im Herzen und seinen Wurm im Gehirn.
    Vor dem Rollstuhl bemerkte er einige dunkle Flecken auf dem Boden, wie von Blut. Was bedeuteten sie? Hatte jemand die Person, die im Rollstuhl gesessen hatte, fortgezerrt und dabei verletzt?
    Zacharias drehte sich um und ging durch den Flur weiter. Ein ganz bestimmtes Zimmer war sein Ziel, und er wusste, dass es im Gegensatz

Weitere Kostenlose Bücher