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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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ganz ausweichen. Die Faust des Mannes, der groß und kräftig neben der Alten mit dem Regenschirm stand, traf ihn an der Schläfe und schickte einen Schmerz durch seinen Kopf, den er einen Moment später neutralisierte. Doch er verlor das Gleichgewicht, ließ Florences Hand los und fiel auf die Straße, direkt neben einen rabenschwarzen Wagen, der kantig und lang zwischen all den kleinen, kugeligen Elektrofahrzeugen erschien, in einer Pfütze hielt und dabei etwas von dem Wasser auf Zacharias spritzte. Die Tür schwang auf.
    Am Steuer saß ein junger Bursche in Jeans und kakifarbenem Hemd, sein Haar so zottelig wie das von Randolph Amadeus. »Zacharias und Florence?«, fragte er höflich.
    Zacharias stand auf und stieß den großen, kräftigen Burschen zurück, der Florence an den Schultern packen wollte. »Ja.«
    »Bitte steigen Sie ein«, sagte der junge Fahrer. »Ich soll Sie zu Tehnehker bringen.«
    Er zog die Silben in die Länge, aber es konnte kein Zweifel daran bestehen, wenn er meinte.
    Zacharias sprang in den Fond des schwarzen Wagens und zog Florence mit sich.
    Einen Moment später gab das Kuppeldach über der Stadt endgültig nach, und das Meer stürzte auf Tokio herab.

Schnittstellen
    H at Lily eine Seele?«, fragte der Mann. »Können Computer eine Seele haben?«
    Der Mann hieß Thorpe und befand sich seit zehn Minuten im Admin-Büro mit dem Hauptterminal. Für Matthias waren es zehn Minuten zu viel.
    »Lily ist kein gewöhnlicher Computer«, sagte er.
    Thorpe lächelte, aber das Lächeln erreichte Matthias nicht. »Weichen Sie mir aus?«
    Matthias beobachtete den Mann über seinen Schreibtisch hinweg und überlegte, welche Bedeutung sich hinter den Worten versteckte, die Thorpe an ihn richtete. Manchmal fiel es ihm schwer, von Menschen formulierte Worte richtig einzuordnen; es gehörte zu den Schwächen, die ihm soziale Kontakte erschwerten. Unterhaltungen mit Lily waren leichter und unkomplizierter.
    »Was wollen Sie?«, fragte er schließlich und versuchte, sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Er mochte Thorpe nicht, und selbst wenn er diesen Fremden gemocht hätte … Er wollte allein sein und war neugierig auf Lilys Antworten.
    Thorpe deutete durch den fensterlosen Raum mit dem Hauptterminal und den beiden Nebenstellen. Ein leises Summen lag in der Luft, deren Temperatur genau einundzwanzig Grad betrug, nie mehr und nie weniger.
    »Fühlen Sie sich hier nicht eingesperrt?«
    »Nein«, sagte Matthias. Er schob seine Brille etwas höher auf den Nasenrücken und fragte sich, wie lange er diesen Eindringling noch ertragen musste.
    »Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«
    Matthias zuckte die Schultern.
    »Sie sind Autist, nicht wahr?«
    Matthias sah den Mann an, der wieder lächelte. Warum lächelte er immer? Was wollte er damit bezwecken?
    »Mit Menschen kommen Sie nicht besonders gut zurecht, aber bei Computern sind Sie ein Ass.«
    »Ein Ass?«
    »Ich meine, der Umgang mit Computern fällt Ihnen leich ter als der mit Menschen.«
    »Lily ist kein gewöhnlicher Computer«, betonte Matthias noch einmal. »Das stimmt zweifellos«, sagte Thorpe und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. In seinen Augen gab es etwas, das Matthias nicht gefiel. »Es gibt Staaten und Staatenfragmente auf dieser Welt, die Sea City und die Foundation um ihre Cray beneiden würden, aber … Hat Lily eine Seele? Sie sprechen mit ihr, habe ich gehört.«
    Matthias überlegte. »Sie hat interessante Antworten, wenn man die richtigen Fragen stellt.«
    »Wer hat der Cray ihren Namen gegeben? Sie waren gegen ›Lily‹, nicht wahr?«
    »Penelope«, sagte Matthias und dachte an die junge Frau, die seit drei Jahren ans Bett gefesselt war, ihr Geist im Irgend wo gefangen. Armes Mädchen.
    Thorpe wölbte eine Braue; dies schien er nicht gewusst zu haben. »Penelope hat Ihre Cray ›Lily‹ genannt?«
    »Nicht die Cray, sondern den von mir programmierten Avatar.«
    »Er ist androgyn, nicht wahr?«
    Matthias schwieg.
    »Weder Mann noch Frau, meine ich.«
    »Ich weiß, was ›androgyn‹ bedeutet. Lily ist Mann und Frau. Sie vereint alle Merkmale in sich.« Matthias zögerte kurz und fügte dann hinzu: »Lily ist perfekt.«
    Thorpe lächelte erneut. »Menschen sind nicht perfekt?«
    »Natürlich nicht«, sagte Matthias sofort.
    Einige Sekunden lang herrschte Stille, und Matthias fühlte einen Blick auf sich ruhen, den er nicht zu deuten wusste. Seine Ungeduld wuchs. »Was wollen Sie?«, wiederholte er. Dann fielen ihm

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