Seelenfänger
reagierte sein Instinkt, und er rollte zur Seite, noch bevor bewusste Gedanken seinem Körper entsprechende Befehle geben konnten. Aber er war nicht schnell genug – das linke Vorderrad rollte ihm über die Beine, einen Sekundenbruchteil später gefolgt vom linken Hinterrad.
Es ist nichts geschehen, dachte Zacharias und sah für einen Moment zur silbrig glänzenden Kuppel über der Stadt hoch. Es ist überhaupt nichts geschehen.
Er setzte die begonnene Drehung zur Seite fort, erreichte den Bürgersteig und blieb dort liegen, unbeachtet von den vielen Fußgängern. Als er aufstehen wollte, zuckte ihm ste chender Schmerz durchs zermalmte Knie, aber nur für einen Augenblick. Dann kehrte die Kraft zurück, und Zacharias beobachtete, wie aus krummen Beinen wieder gerade wurden. Gesplitterte Knochen und zerfetzte Muskeln wuchsen zusammen, und die Beine trugen ihn, als er aufstand und sich nach dem Fremden umsah.
Die Menge der Fußgänger hatte ihn verschluckt.
Zacharias schickte ein Ping in den Äther dieser Welt, ein starkes Signal, nur wenig gedämpft und kaum getarnt. Auch diesmal bekam er kein Echo, nicht einmal ein schwaches, aber etwas geschah, etwas reagierte auf seinen Ruf. Ein Wogen zog über die Kuppel, eine Welle aus Licht, die auch kurz über Straße und Bürgersteige schwappte, und die Konturen der Gebäude zu beiden Seiten des Asphaltbandes flackerten. Zacharias hob den Kopf, hielt nach der Ursache der Veränderung Ausschau und bemerkte Florence mitten auf der Straße. Sie entdeckte eine ausreichend große Lücke im Verkehr und setzte mit einem entschlossenen Sprint über die Fahrbahnen hinweg.
Mit wehendem Haar kam sie heran. »Dummkopf! Wie oft habe ich dich vor Übermut gewarnt!«
»Danke, es geht mir gut«, sagte Zacharias und lächelte schief. »Es ist nichts passiert, Flo, reg dich ab.«
Sie schüttelte den Kopf. »Warum Risiken eingehen? Warum sich überfahren lassen?«
»Es war nicht meine Absicht, mich überfahren zu lassen, Flo. Ich …« Er winkte ab. »Hast du den Burschen gesehen?«
»Ja.«
»Ein Traveller wie ich«, sagte Zacharias. »Und ich kannte ihn nicht. Wie ist das möglich? Gibt es Traveller außerhalb der Foundation?«
»Talentsucher des Philanthropischen Instituts sind überall unterwegs …«
»Der Typ war nicht nur ein Talent. Er muss ausgebildet worden sein, denn er stellte sich verdammt geschickt an, als er uns pingte, und jetzt ist er spurlos verschwunden. Ich meine spurlos . Mein eigenes Ping blieb ohne Echo.« Zacharias hatte seinen Blick erneut über den Fußgängerstrom schweifen lassen, in der Hoffnung, dass sich irgendwo ein weißblonder Haarschopf zeigte, und jetzt wandte er sich Florence zu. »Ein erfahrener, ausgebildeter Traveller, der nicht zur Foundation gehört und sich hier herumtreibt, im Kopf eines gewissen Haruko Isamu Abe. Es dürfte wohl kaum ein Zufall sein, dass er hier ist.«
»Fukuroku hat uns den Auftrag gegeben, Harukos Entführer zu identifizieren«, sagte Florence.
»Vielleicht gehört der Bursche, den wir gesehen haben, zu den Kidnappern. Leider hat sich Fukuroku nicht dazu herabgelassen, uns Einzelheiten über die Entführung zu verraten. Kannst du was darüber herausfinden, Flo?«
Neben ihm blieb eine alte Frau stehen, der Rücken gebeugt, das Haar grau. In der einen Hand hielt sie einen Regenschirm, obwohl es hier keinen Regen gab – es würde nur dann Wasser vom Himmel kommen, wenn das Kuppeldach brach.
»Ich versuch’s«, sagte Florence. »Beginne mit der Datenabfrage.«
Die Alte öffnete den Mund und sprach einige Worte, die melodisch klangen, nach dem Anfang eines Lieds. »Du gehörst nicht hierher«, sagte sie und richtete den Regenschirm auf Zacharias.
Andere Fußgänger blieben ebenfalls stehen und starrten ihn an. Die vielen Stimmen der Passanten verklangen nach und nach; Stille breitete sich aus, als hielte die Stadt unter dem silbernen Firmament der Kuppel den Atem an.
»Ich habe uns noch nicht wirklich integriert«, sagte Zacha rias zu Florence, die ihn fragend ansah. »Haruko hat uns entdeckt.«
Nein, das stimmte nicht ganz, teilte ihm sein Instinkt mit. Der fremde Traveller hatte Harukos Aufmerksamkeit auf sie gelenkt, aber anstatt sie als Helfer willkommen zu heißen, schien er sich gegen sie wenden zu wollen.
»Aversion«, murmelte Zacharias und beobachtete, wie sich ihnen immer mehr Gesichter zuwandten, auffallend flache Gesichter, die meisten von ihnen blass und glatt, mit großen Augen, in denen erst
Weitere Kostenlose Bücher