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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Schmerz verschwand, Blut strömte durch wiederhergestellte Venen; der Arm fühlte sich wie neu an und ließ sich bewegen, als wäre überhaupt nichts geschehen.
    »Ich bin gut«, sagte Zacharias stolz auf sich.
    »Werd nicht übermütig«, warnte Florence. Sie stand neben ihm, die Hand noch immer am Interface, als könnte sie die Daten dadurch besser empfangen. »Die Biometrie teilt mir mit, dass du müde wirst, Zach. Weil du unvorsichtig bist, Fehler machst und dann mit ihren Konsequenzen fertigwerden musst. Wie jetzt gerade. Du hast noch nicht gelernt, mit doppelten Datenströmen zurechtzukommen, mit dem internen, der dich mit dem Patienten verbindet, und dem externen, der Zugriff auf unsere Datenbanken gestattet. Die Störung der Synchronisation durch die Datenübertragung gab dem Angreifer Gelegenheit, dich zu attackieren.«
    Zacharias legte den Arm um ihre zarten Schultern, drückte Florence kurz an sich und ließ sie dann wieder los. »Du machst dir zu viele Sorgen.«
    »Und du bist zu unbekümmert.«
    Er bewegte noch einmal den wieder angewachsenen Arm und vergewisserte sich, dass alles in Ordnung war. Von Schwäche keine Spur. Er steckte voller Kraft und freute sich über jede Gelegenheit, Gebrauch davon zu machen.
    »Ich habe den Grundriss«, sagte er und sah ihn jetzt mit beiden Augen, eine schematische Darstellung vor den Konturen des Ballsaals, mit blauen Punkten, die ihm den Weg wiesen. »Ich weiß, wo er ist, unser Randolph Amadeus. Er will nicht, dass wir entdecken, was ihn zu den Selbstmordversuchen getrieben hat.« Er empfing die Informationen, als hätte er Zugriff auf ein fremdes Gedächtnis, und in ge wisser Weise war das tatsächlich der Fall. Das Leben von Randolph Amadeus Quint lag vor ihm ausgebreitet, ein Haufen mehr oder weniger banaler Details, die Monate und Jahre gefüllt hatten. Nichts, das er nicht woanders in ähnlicher Form gesehen hatte, ein wohlbehütetes Leben in Luxus, die besten Schulen, jetzt eine private Elite-Universität, finanziert vom Philanthropischen Institut, einige gute Freunde, unter ihnen einer, der …
    »Oh, ich glaube, wir kommen der Sache näher«, sagte Zacharias und schritt am Rand der Tanzfläche entlang zur Treppe auf der anderen Seite, die ins Obergeschoss mit Randolphs Zimmer führte. »Mir scheint, Randy hat in den letzten beiden Jahren seine Homosexualität entdeckt. Dies ist sein achtzehnter Geburtstag, und er feiert ihn auf besondere Weise.« Das Zielzimmer im Obergeschoss wies nicht eine rote Silhouette auf, sondern drei, zwei dicht beisammen und eine bei der Tür.
    »Das soll der Grund für seine Selbstmordversuche sein?«, fragte Florence skeptisch. »Homosexualität? Meine Güte, dies ist das einundzwanzigste Jahrhundert. Heutzutage bringt sich doch niemand um, weil er plötzlich feststellt, schwul zu sein.«
    »Wer weiß.«
    Sie hatten die Treppe fast erreicht, als Bewegung in die stille Welt kam. Die Paare auf der Tanzfläche erwachten aus ihrer Starre, drehten sich langsam und glotzten Zacharias und Florence an. Eine nur wenige Meter entfernt stehende Frau in mittleren Jahren, das Haar zu einem kastanienbrau nen Turm aufgesteckt und die Augen üppig geschminkt, öffnete den Mund, und ihr Tanzpartner folgte diesem Beispiel. Die Lippen der anderen teilen sich ebenfalls, und ein vielstimmiger Schrei erklang. Er begann wie das Brummen einer langsam anlaufenden Sirene, wurde dann lauter und kletterte gleichzeitig die Tonleiter hinauf, bis er als schrilles Heulen das Glas des Kronleuchters zerspringen ließ. Abrupt brach er ab, und Hunderte von Splittern hingen über der Tanzfläche in der Luft. Die Tänzer waren wieder reglos und standen wie gelähmt, mit Gesichtern wie Fratzen.
    »Du bist die Therapeutin«, sagte Zacharias und stieg die Treppe hoch. »Welche symbolische Bedeutung steckt in dem, was wir gerade beobachtet haben? Was hat es mit dem zerbrochenen Kronleuchter auf sich? Und warum sind die Gesichter der Tanzenden zu Fratzen geworden?«
    »Es wird alles aufgezeichnet«, erwiderte Florence. »Die Auswertung erfolgt später. Lily wird uns dabei helfen.«
    Lily, so nannten Florence und die anderen die Cray XE der Foundation, einen Hochleistungscomputer mit fast hun dertfünfzigtausend Cores, die zwei Petaflops erreichten; seine Ressourcen wurden vor allem für die Verwertung von meteorologischen Daten und Klimaberechnungen genutzt. Nur einer kleiner Teil der Kapazität stand der Founda tion zur Verfügung, genügte aber selbst für komplexe

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