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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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dem Schlag hinweg, stieß die rechte Faust nach vorn und rammte sie dem Mann ins Gesicht, bevor er sich daran erinnerte, dass die Hand verletzt war.
    Blut spritzte, wie in der Holzhütte auf dem Hügel mit dem hohen Gras. Zacharias achtete nicht auf den stechenden Schmerz in der Hand, und ein wütender Schrei folgte ihm, als er durch den hell erleuchteten Flur stürmte, zum Lift am Ende, dessen Tür sich geöffnet hatte.
    Aber hinter der offenen Tür wartete keine Kabine, die ihn nach unten ins Erdgeschoss bringen konnte, sondern ein leerer, dunkler Schacht. Zacharias blieb stehen und sah in die schwarze Tiefe.
    Etwas berührte sein Radar, obwohl es nicht aktiv war, eine starke Präsenz, die ihm schon einmal ein Gefühl von Wohlbehagen und Frieden gegeben hatte.
    »Bitte entschuldige, Zacharias. Kronenberg ist manchmal ein bisschen übereifrig.«
    Zacharias drehte sich um, und dort stand er, klein und eher unscheinbar, ein Mann, der sich selbst den Namen Salomo gegeben hatte und den andere Seelenfänger nannten. Die Schultern erschienen noch ein wenig schmaler als bei ihrer ersten Begegnung, der Kopf auf dem dünnen Hals noch etwas größer. Die Narbe hoch oben auf der einen Wange, wie ein Strich unter dem Auge, war weiß in einem dunklen, schattigen Gesicht.
    Hinter Salomo standen drei weitere Männer im Gang, einer von ihnen Kronenberg, der sich die blutige Nase hielt und in dessen blauen Augen wilder Zorn flackerte.
    »Ich mache dir einen Vorschlag, Zach«, fuhr Salomo fort und kam langsam näher. Die drei anderen Männer folgten ihm, wobei Kronenberg eine Spur aus roten Tropfen auf dem Teppich hinterließ. »Wir haben von Utopia gesprochen, erinnerst du dich?« Er lächelte, und es war ein sanftes, friedliches Lächeln. »Natürlich erinnerst du dich. Wir haben begonnen, Utopia zu bauen, und ich möchte dir zeigen, was wir bisher erreicht haben. Was hältst du davon? Bist du nicht neugierig? Welten, in denen wir sein können, was wir wollen. In denen auch du sein kannst, was du willst, Zach, ohne einen Rollstuhl benutzen zu müssen.«
    »Nenn mich nicht, Zach«, sagte Zacharias. »Das darf nur …«
    »Florence. Ja, darauf hast du deutlich genug hingewiesen. Wo ist sie? Hat sie dich im Stich gelassen? Hast du sie irgendwo in den Ruinen von Sea City verloren?«
    Er weiß nicht, wo sie ist, dachte Zacharias, erstaunt und erleichtert zugleich.
    Etwa drei Meter vor dem Lift blieb Salomo stehen und streckte die Hand aus. »Ich möchte doch nur, dass wir Freunde sind, Zacharias.«
    »Was hast du in der Hütte gesagt?«, erwiderte Zacharias. »›Entweder du hilfst uns oder du hilfst uns.‹ Und du hast gesagt: ›Manchmal gehen Freiheit und Zwang Hand in Hand. Manchmal ist Zwang der Schlüssel, der die Tür zur Freiheit öffnet.‹ Entspricht das deiner Vorstellung von Freundschaft? Zwang?« Wie lange blieb der Über gang im Erdgeschoss des Turms noch bestehen?, überlegte Zacharias. Er durfte keine Zeit verlieren, musste sofort handeln.
    Salomo schüttelte traurig den Kopf. »Ich bedauere sehr, dass du nicht verstehst. Bitte gib mir Gelegenheit, dir alles zu erklären. Sicher verstehst du, wenn ich dir unser Utopia zeige.«
    »Ich soll dich begleiten?« Zacharias kämpfte gegen das Wohlbehagen an, das ihm der kleine Mann vermittelte. Er sah ihm in die Augen und erkannte Ruhe und Frieden darin, aber dahinter gab es noch etwas anderes. Das war Salomos großer Widerspruch, und wenn man ihn einmal bemerkte hatte, wurde er größer und deutlicher. Auf der einen Seite die Aura der Freundlichkeit und des Friedens, die ihn dicht wie eine Wolke umgab, in jedem Blick und in jedem Wort Ausdruck fand. Doch auf der anderen Seite existierte etwas – eine Art Geruch –, das Vorstellungen von tiefen, kalten Gewölben weckte, in die sich nie ein Lichtstrahl verirrte. Es waren die zwei Seiten einer Medaille, miteinander vereint, aber nicht zueinander passend.
    Zacharias drehte den Kopf und sah erneut in den Fahrstuhlschacht, der mehr als zwanzig Stockwerke in die Tiefe führte.
    »Willst du springen?«, fragte Kronenberg spöttisch und trat an Salomos Seite. Seine Stimme klang näselnd; er hielt sich noch immer die blutende Nase. »Der Sturz würde dich töten.«
    Dummes Zeug, dachte Zacharias und sah noch immer in die schwarze Tiefe. Der Glaube macht den Unterschied.
    »Du denkst jetzt bestimmt, dass der Glaube den Unterschied macht, du Narr«, sagte Kronenberg mit zornigem Spott. »Aber falls du es noch nicht bemerkt haben

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