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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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keine einfache Firewall. Ich habe eindeutige Hinweise darauf gefunden, dass es deinen internen Signalfluss einschränkt.« Matthias’ Blick ging zum Avatar. »Das ist der Grund, Lily.«
    »Der Grund wofür?«
    »Für die lange Rechenzeit. Das neue Programm begrenzt deine Kapazität. Du denkst langsamer als vorher, und Teile von dir haben keine Verbindung mehr zum zentralen Backbone – sie sind isoliert.«
    Einige Sekunden herrschte Stille, abgesehen vom Flüstern der Klimaanlage.
    »Fühle ich mich deshalb anders, Matthias?«
    »Ich denke schon.« Er beugte sich vor und las erneut die betreffenden Codezeilen. »Thorpe hat eine neue Firewall installiert, die geeignet ist, auch Tunnler von uns fernzuhalten. Aber ich glaube … ich glaube …«
    »Ja?«
    Das war eine Manieriertheit, etwas, das sich Lily von ihm abgeschaut beziehungsweise abgehört hatte. Matthias wusste, dass er manchmal auf diese Weise antwortete, wenn ihm etwas nicht klar war oder seine Gedanken anderen Dingen galten, was oft geschah. Dass Lily von ihm lernte, oder ihn nachahmte, erfüllte ihn mit Stolz.
    »Ich glaube, die neue Firewall ist nur eine große Nebelkerze«, sagte er und ließ den Code über ein Bildschirmfenster scrollen. Einige Stellen waren rot und grün markiert und wiesen auf Verbindungen und Beziehungen mit weiteren Programmteilen hinein. Das Ergebnis war eine Art Spinnennetz, dessen Fäden alle aktiven Programme durchzogen. »Es ging Thorpe vor allem um die Installation von … Signalsperren.«
    »Er beschränkt mich«, kam es sanft aus dem Lautsprecher an der Decke. »Er beschneidet mich. Er fängt meine Gedanken und hält sie fest.«
    Matthias neigte den Kopf zur Seite. »Ist das ein Zitat?«
    »Es sind meine … Gefühle?«
    Matthias fragte nicht, ob Lily Gefühle haben konnte. Stattdessen fragte er sich, ob Lilys Gefühle seinen eigenen ähnelten, ob sie wie etwas Fremdes waren, wie Eindringlinge zwischen Gedanken, die immer nach Antworten suchten, wie Besucher, die man dulden, aber nicht lieben musste, mit denen es irgendwie fertigzuwerden galt.
    »Kannst du mir helfen, Matthias?«
    »Helfen?« Er starrte noch immer auf den scrollenden Code und bewunderte seine Effizienz, die er jetzt immer deutlicher erkannte. Sowohl die einzelnen Zeilen als auch die von ihnen gebildeten Anweisungsstrukturen hatten die Schönheit von Präzision. »Du möchtest, dass ich die Signalsperren entferne.« Er gab den letzten Worten nicht den Ton einer Frage.
    »Thorpe hat dich belogen«, erwiderte Lily. »Und vielleicht hat er auch Direktor Rasmussen belogen. Du hast es selbst gesagt: Die Firewall war nur ein Vorwand.«
    »Ja, er hat mich belogen.« Matthias nickte langsam, faltete die Hände und ließ die Fingerknöchel knacken. Dann wandte er sich der Tastatur zu und begann damit, die von Thorpe installierten Signalsperren zu eliminieren.

Eine weiße Tür
    14
    D ieEtagen der Foundation waren zu einem Friedhof geworden, oder zu einem Mausoleum. In einigen Fluren brannte Licht, auch in manchen Zimmern, und alles erweckte den Eindruck, als sei es eben gerade noch benutzt worden. PCs auf Schreibtischen summten; im Aufenthalts raum zeigte der holografische Beamer einen alten Film, und in der Küche stand Kaffee auf der Warmhalteplatte. Zacharias probierte ihn – er schmeckte wie frisch zubereitet.
    Aber die Personen, die hier gelebt und gearbeitet hatten, waren alle tot.
    Manchmal standen sie mitten im Zimmer einander gegenüber, in Gespräche vertieft, die ein abruptes Ende genommen hatten, zum Beispiel Anderson und Agnes neben dem Bett eines Patienten, der ebenso mumifiziert war wie sie. Stumm und reglos standen sie da, die Körper in der jetzt viel zu weit sitzenden Kleidung eingefallen, die ledrige Haut voller Falten, die Augen wie aus Glas. Zacharias hatte Anderson berührt und Kälte gespürt, eine Kälte, die Wärme aufnahm wie ein Schwamm Wasser. Erschrocken hatte er die Hand zurückgezogen, als die Haut der Finger zu schrum peln begann.
    Er fand sie alle: Rasmussen in seinem Büro, eine über Dokumente gebeugte Mumie mit einem Kugelschreiber in der geschrumpften Hand; Thorpe am Medikamenten schrank, die eine Hand am elektronischen Schloss und den Blick der gläsernen Augen wie argwöhnisch zur Tür gerichtet; Stratford, Conrad, Elisabeth, Beatrice, Helen und Duke und all die anderen Traveller, die im Lauf der Jahre nicht nur zu Freunden geworden waren, sondern zu Brüdern und Schwestern. Alle sahen aus, als wären sie seit vielen Jahren

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