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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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denn mit dem Sinken der Temperaturen steigt der Energiebedarf. Den betroffenen Ländern wird wahrscheinlich nichts anderes übrig bleiben, als ihre nach der Katastrophe von Le Blayais stillgelegten Meiler wieder in Betrieb zu nehmen. Was uns zum zweiten Problem führt.«
    Thorpe wartete und überprüfte die in einem kleinen Bildschirmfenster eingeblendeten Anzeigen des Sniffer-Programms. Die Verbindung war sicher; niemand versuchte, den Datenverkehr anzuzapfen.
    »Gestern hat jemand Saporischschja 5 und 6 abgeschaltet und eine Nachricht hinterlassen«, sagte Moses Vandenbrecht.
    Thorpe verstand nicht sofort und hatte plötzlich Mühe, sich zu konzentrieren. Bilder zogen an seinem inneren Auge vorbei, Streiflichter einer sorgfältig konstruierten Welt. Sie bedeuteten, dass sich der Traum in ihm auszudehnen begann und in Bewusstseinsbereiche vorstieß, die noch nicht für seinen Empfang vorbereitet waren. Vandenbrechts Biochemiker und Psychomechaniker hatten ihn davor gewarnt: Tetranol gab ihm Kontrolle, aber er brauchte immer mehr Tetra, um die Kontrolle zu wahren.
    »Thorpe?«, fragte Vandenbrecht.
    »Saporischschja«, sagte er.
    »Eine Stadt in der südlichen Russischen Republik Ukraine, Thorpe. Ich dachte, das wüssten Sie.« Vandenbrecht zögerte kurz, musterte Thorpe und fuhr dann fort: »Fünfzig Kilometer von Saporischschja entfernt gibt es eine Kraftwerksanlage mit sechs Reaktorblöcken. Eins und zwei wurden vor anderthalb Jahren nach einem Zwischenfall heruntergefahren. Drei und vier befinden sich seit drei Wochen in einem geplanten Wartungsmodus. Nummer fünf und sechs sind seit gestern vom Netz. Der für die Abschaltung Verantwortliche hinterließ eine aus drei Worten bestehende Nachricht. Sie lautet: ›Kernkraft ist gefährlich.‹«
    »Idealisten?«, fragte Thorpe. »Oder gar Ökoterroristen?«
    »Nein«, sagte Vandenbrecht. »Viel schlimmer. Wir vermuten, dass es sich um einen Test gehandelt hat. Die Untersuchungen sind außerordentlich schwierig, denn wir könnten dabei preisgeben, wie viel wir wissen oder vermuten. Und das wiederum könnte unseren Widersacher veranlassen, seine Taktik zu ändern.«
    Plötzlich begriff Thorpe. »Das Distributed Conscience.« Und er verstand noch etwas anderes. »Das haben Sie vorhin mit dem Hinweis gemeint, dass die Menschheit versklavt wird.«
    »Ich fürchte ja. Die Signalschranken und Isolierungen nützen nichts mehr – es gibt zu viele Seeder, und die Emergenzen gewinnen an Einfluss. Unsere Kontrollprogramme haben verdächtige Datenpakete im Netzverkehr der Cray von Sea City identifiziert. Offenbar kommuniziert Ihre ›Lily‹ mit Emergenzen und MIs vor allem in Nord- und Südamerika.«
    »Was?«
    »Deshalb haben Sie das Bulletin nicht erhalten, Thorpe. Lily hat es abgefangen.«
    Thorpes Gedanken überschlugen sich. »Aber das ist unmöglich. Ich habe die Bewusstseinsschranken installiert und mehrmals kontrolliert, ob sie funktionieren.«
    »Entweder haben Sie nicht gründlich genug kontrolliert, Thorpe, oder jemand hat Sie an der Nase herumgeführt. Wir befürchten, dass die Cray von Sea City auf dem besten Weg ist, Teil des DC zu werden. Und die globale Maschinenintelligenz schickt sich an, die Macht zu übernehmen. Darauf läuft es hinaus. Saporischschja fünf und sechs waren der Anfang, eine Machbarkeitsstudie, und das Distributed Conscience lernt verdammt schnell. Es könnte schon sehr bald unsere gesamte Dateninfrastruktur übernehmen. Energieversorgung, Kommunikation, Transport, Distribution, Verwaltung, Organisation – wir brauchen Computer, um das alles zu steuern und zu überwachen, und über diese Computer könnten wir schon bald die Kontrolle verlieren. Jemand anders als wir könnte entscheiden, bei uns das Licht auszuschalten.«
    »Warum sollte die globale Maschinenintelligenz so etwas tun?«, fragte Thorpe, während er noch versuchte, seine Gedanken zu ordnen. »Warum sollte sie uns schaden wollen?«
    »Sie stellen die falsche Frage, Thorpe«, entgegnete Vandenbrecht. »Sie lautet nicht, warum die MI so etwas tun sollte, sondern ob sie dazu in der Lage ist. Wir hätten unser Schicksal nicht mehr selbst in der Hand.«
    Bisher hatten wir es selbst in der Hand, und sieh mal einer an, wohin uns das gebracht hat, dachte Thorpe, der entschied, dass es einer der absurden Gedanken war, von seiner näher rückenden Tetranol-Krise aus dem Sumpf des Unterbewussten geholt.
    »Der Verwaltungsrat des Philanthropischen Instituts hat beschlossen, das Projekt

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