Seelenfänger
Fukuroku nach Sea City gebracht hatte. Nur dann konnte Thorpe seiner wichtigsten Aufgabe gerecht werden.
Rasmussens Blick traf ihn, und im Gesicht des Direktors sah er eine Nachdenklichkeit, in der vielleicht auch ein Hauch Argwohn steckte. »Er hat recht«, sagte er schließlich. »Wir dürfen uns nicht verzetteln.«
Plötzlich piepte es, aber nicht bei den Geräten neben Penelopes Bett, sondern in Thorpes Jacke. Er griff in die Innentasche, holte sein Smartphone hervor, sah aufs Display und las: Sofortiger Kontakt erforderlich, MV .
Er schenkte Helen, die ihn noch immer finster anstarrte, ein entschuldigendes Lächeln, verließ den Raum und machte sich auf den Weg zum Büro, das Rasmussen ihm zur Verfügung gestellt hatte.
Als er durch den Flur eilte, trat jemand durch die Tür eines offenen Zimmers. Der Mann trug einen weißen Kittel, und Thorpe erkannte Eugène, einen von Andersons Kollegen.
»Er ist tot«, sagte Eugène.
»Was?« Thorpe blieb stehen. »Wer ist tot?«
Der Arzt schüttelte traurig den Kopf. »Der junge Prioritätspatient, den uns das Philanthropische Institut vor einer Weile geschickt hat. Randolph Amadeus Quint. Erst achtzehn Jahre alt. Seine Mutter gehört zu den Geldgebern des PI. Wer soll ihr sagen, dass ihr Sohn tot ist?«
»Wie ist er gestorben?«, fragte Thorpe, obwohl das für seinen Auftrag eigentlich keine Rolle spielte.
»Ich weiß es nicht.« Der Arzt schüttelte erneut den Kopf, hilflos und verwirrt. »Er hat einfach aufgehört zu leben.«
Im Büro vergewisserte sich Thorpe zuerst, dass während seiner Abwesenheit weder Abhörgeräte noch Spitzelprogramme installiert worden waren. Dann setzte er sich an den PC – der zwar in das lokale, von Lily gesteuerte Netzwerk eingebunden war, aber nicht auf die Ressourcen der Cray zugriff und nur ihre externen Kommunikationskanäle teilte, ein dummer PC, nach den Begriffen der Sysadministration, für Thorpes Zwecke aber intelligent genug –, stellte eine abgesicherte Verbindung her und gab seinen Identifizierungscode ein. Wenige Sekunden später erschien das schmale, zerfurchte Gesicht von Moses Vandenbrecht auf dem Schirm.
»Die Welt steht am Abgrund, Thorpe«, sagte Vandenbrecht ohne Einleitung. »Europa wird erfrieren und die Menschheit versklavt.«
Thorpe starrte auf den Schirm und blinzelte. »Was?«
»Haben Sie sich das letzte Bulletin angesehen?«
»Das letzte Bulletin? Meinen Sie das von gestern?«
»Ich habe Ihnen vor drei Stunden einen Bericht geschickt, mit einem komprimierten Datenanhang«, sagte Vandenbrecht. So müde sein Gesicht auch wirkte, die wässrigen grauen Augen waren hellwach.
Thorpe kontrollierte sein sicheres Postfach und auch den chiffrierten Speicher des Smartphones. »Ich habe nichts bekommen.«
»Was kein Zufall sein dürfte«, sagte Vandenbrecht. »Ich bin sicher, dass es sich nicht um einen Übertragungsfehler handelt.«
»Was ist geschehen?«, fragte Thorpe.
»Die Nordatlantische Strömung bricht ab«, sagte Vandenbrecht. »Sie hat sich in den letzten Stunden um achtzig Prozent verringert.«
»In den letzten Stunden ?«
»Es hat selbst unsere pessimistischsten Klimaspezialisten verblüfft«, sagte Vandenbrecht. »Der Point of no return ist überschritten. Das ganze System kollabiert. Europas Heizung funktioniert nicht mehr. Wir sind noch dabei, die Klimamodelle auf eine neue Basis zu stellen, aber alles deutet auf den Beginn einer neuen Eiszeit in Europa hin. Während der Rest des Planeten in den Backofen geschoben wird, wandert Europa ins Eisfach.«
»Wie viele Jahre wird das dauern?«, fragte Thorpe.
»Sie sollten besser fragen: wie viele Monate ? Es hängt natürlich davon ab, wie sich die Windströmungen verändern, ob sich West- oder Ostwetterlagen einstellen und so weiter. Das Mittelmeer ist noch immer ein guter Wärmespeicher, aber das wird nicht verhindern, dass es im kommenden Winter nördlich der Alpen ziemlich kalt werden wird. Und der Winter wird länger dauern, bis in den Frühling hinein. Vielleicht bleibt selbst in den tiefen Lagen hier und dort Schnee liegen, bis zum nächsten Winter der noch früher beginnt. Im schlimmsten Fall könnte ganz Mitteleuropa schon in einem Jahr weiß sein und in Frühling und Sommer auch weiß bleiben. Das löst, zumindest für Europa, vielleicht das Problem des ansteigenden Meeresspiegels, da alles vereist, aber schon für die nächste Saison ist mit massiven Ernteausfällen zu rechnen. Außerdem wird sich die energetische Krise zuspitzen,
Weitere Kostenlose Bücher