Seelenfeuer
die Freundin geschüttelt, bis sie wieder vernünftig würde, aber wie sollte das gehen, solange Nanne davon überzeugt war, dass bereits ihr Blick einen tödlichen Fluch brachte? Luzia bemühte sich, ihre Stimme wieder zu senken, weil sich bereits ein paar Neugierige eingefunden hatten, die das Schauspiel aus nächster Nähe verfolgten. »Was gibt es denn hier zu glotzen? Macht, dass ihr fortkommt!«, rief Luzia voller Zorn in die Richtung von zwei Frauen, die begierig näher kamen.
»Komm schon, bei einer Hexe weiß man nie«, entschied die Jüngere der beiden, während sie ihre Begleiterin am Ärmel mit sich zog. Hastig bekreuzigten sie sich und gingen weiter.
»Nanne, ich bin immer noch Luzia, deine Freundin! Erinnerst du dich nicht mehr, wie wir als Kinder gemeinsam
Maikäfer gefangen und sie deinem Vater unter sein Schlaffell gelegt haben? Wie alt waren wir damals, sieben oder acht? Oder als wir zwei Nächte hindurch an der dicken Blumengirlande zur Hochzeit deiner Schwester gearbeitet haben? Oder als ich nach all den Jahren in Seefelden wieder zurückgekommen bin und wir die kleine Höhle oben am Bach wiedergefunden haben, in der wir uns schon in Kindertagen versteckt hielten, wenn ich Mutters Zorn wieder einmal aus dem Weg gehen wollte?«
Nanne starrte sie aus angstgeweiteten Augen an. Aus der Freundin aus Kindertagen war eine Fremde geworden.
»Luzia, du musst das verstehen, all das war, bevor du deine Seele in Gefahr gebracht hast und dich hast vom Teufel heimsuchen lassen! Die ganze Stadt redet über dich, und warum sonst würde der Papst Hochwürden Heinrich Kramer als Vertretung für die heilige Inquisition zu uns nach Ravensburg schicken?«, fragte Nanne mit frostiger Stimme. »Hier steht es doch geschrieben«, fuhr sie fort und zeigte auf Kramers Ernennung, die neben dem Pfarrhaus an der Wand hing.
Verzweifelt schüttelte Luzia den Kopf. Übelkeit stieg in ihr auf und kroch wie eine feurige Schlange durch ihre Eingeweide. »Kannst du die Worte des Papstes denn überhaupt lesen? Oder küsst du genau wie alle anderen dieses Siegel nur, weil es von höchster Stelle kommt?«
Nanne spürte, wie unter Luzias spitzen Worten die Wut nach ihr griff. Luzia wusste doch ganz genau, dass sie weder lesen noch schreiben konnte. Im Gegensatz zu ihr wusste Nanne aber, wo ihr Platz als Frau war. Sie hatte sich noch nie dazu verleiten lassen, einem der hohen Herren zu widersprechen, wie Luzia das manchmal tat. Sicher war es auch
ihrem Eigensinn und ihrem Wissensdurst zuzuschreiben, dass der Teufel es geschafft hatte, Luzia zu seiner Dienerin zu machen.
»Jeder in Ravensburg weiß, dass seine Heiligkeit der Papst mit diesem Pergament Doktor Heinrich Kramer damit beauftragt hat, Hexen, Ketzern und allen, die vom wahren Glauben abgefallen sind, den Garaus zu machen!«, erwiderte Marianne gereizt.
»Nanne, es tut mir leid, ich wollte dich nicht kränken«, versuchte Luzia ihren Anflug von Überheblichkeit abzumildern.
»Spar dir deine Worte und geh deiner Wege, ich möchte nicht mit dir gesehen werden«, sagte Nanne schnell und ließ sie stehen.
Als Luzia sah, wie Marianne ihre Lippen auf das Siegel der Papstbulle drückte, sprudelte es einfach aus ihr heraus: »Oh, Nanne, warum seid ihr alle so blind? Jeder von euch würde, ohne es zu merken, sein eigenes Todesurteil küssen!«
Luzia wollte davongehen, als ihr Marianne in den Weg trat.
»Ich bin nicht dumm! Ich glaube lediglich, was uns die hohen Herren über die Hexen berichten, und weißt du was, ich habe schon immer gewusst, dass du eine von ihnen bist!«, schrie Marianne schrill, vor Wut bebend.
Luzia tat einen großen Schritt auf die junge Rösslerin zu und funkelte sie zornig an. Dann gab sie ihr eine schallende Ohrfeige.
»Du bist noch weitaus dümmer, als ich dachte!«, spie Luzia aus und eilte davon. Sie spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten und ihr Herz von den Dornen der Bitternis durchbohrt wurde.
Die Sitzung im kleinen Ratssaal fand bereits im Morgengrauen statt. Neben Bürgermeister Ettenhofer, dem Ammann und den Räten des Blutgerichts waren auch Heinrich Kramer und Kaplan Grumper anwesend. Auf dem großen Tisch flackerten ein paar Talglichter und verbreiteten eine unheimliche Stimmung, als der Inquisitor selbst alle Anzeigen verlas, welche die Ravensburger tagelang bei ihm getätigt hatten. Dass er den Zeugen dabei viele Suggestivfragen gestellt und damit ihr Denken und Fühlen beeinflusst hatte, spielte für ihn keine
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