Seelenfeuer
wollte der todgeweihten Frau diese Bitte, die vielleicht ihre letzte war, nicht abschlagen. Deshalb packte sie die Fehlgeburt in ein Leinen und nahm sie mit.
Als sie Schwarzenberger am Tor stehen sah, schwand ihr das Herz, und sie beschlich die beklommene Ahnung, einen Fehler begangen zu haben. Selbst jetzt, während sie ihrem Onkel davon erzählte, fühlte sie die Angst, die sie bei seinem Anblick befallen hatte. Eine begründete Angst, wie sie jetzt wusste.
Als sie ihm gegenübergestanden hatte, hatte er barsch gefragt, wohin sie wolle, und das Bündel zu sehen verlangt, welches sie bei sich trug. Während er seine Befehle erteilte, drängte er sie in eine Mauernische und blieb dicht vor ihr stehen. Er kam ihr sogar so nahe, dass sie sein steifes Glied an ihrem Schenkel spüren konnte.
Bei diesem Gedanken wurde ihr noch jetzt übel.
»Ihr verlangt zu sehen, was ich bei mir trage?«, fragte sie in ihrer Not und schlug das Leinen auseinander. Schwarzenberger fuhr mit einem verblüfften Schrei zurück.
»Es ist eine Nachgeburt«, sagte Luzia geistesgegenwärtig und tat einen Schritt nach vorn. »Ich werde sie an einem geschützten Platz vergraben, wie es für unseren Berufsstand Sitte ist.«
Sie hob das blutige Bündel in ihrer Hand und hielt es ihm vor das Gesicht, sodass er zurückweichen musste. Für einen Augenblick standen sie sich so gegenüber, dann kam glücklicherweise der Kollege Schwarzenbergers vom Abtritt zurück.
»Was treibt ihr da?«, fragte er ungeduldig. Er ließ sich den Inhalt des Bündels zeigen und hielt ihn für ungefährlich. Luzia durfte das Tor passieren.
»Weißt du denn nicht, was die Weiber bei einer Geburt so alles von sich geben?«, hörte sie in ihrem Rücken den zweiten Torwächter lachend sagen. Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Schwarzenberger vor Zorn zitterte.
Natürlich!, dachte sie jetzt. Schwarzenberger hatte ganz andere Pläne mit ihr gehabt, und sie hatte ihn um sein Vergnügen gebracht und ihn ein weiteres Mal vor seinem Kollegen
gedemütigt. Seine Klage war die Rache dafür! Luzia schluckte den bitteren Geschmack von Galle hinunter. Ihr Blick verschleierte sich, und als sie Basilius’ Arme fühlte, die sich tröstend um ihren Leib legten, ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
»Was geschieht denn nun?«, fragte Luzia, nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte.
Basilius spürte, wie sich das zweite Schreiben, das sich noch in einer Tasche seines Hemdes befand, in sein Herz brannte. Zögernd kramte er es hervor und reichte seiner Nichte das vom Rat der Stadt gesiegelte Schriftstück. Mit zitternden Händen öffnete sie das glatte Pergament. Dieser Brief konnte nur eines bedeuten. Dennoch wollte sie die Zeit noch ein wenig anhalten, bevor die Gewissheit über sie hereinbrechen würde, dass sie ihren Häschern nicht entgehen konnte.
Als sie endlich zu lesen begann, tanzten die geschwungenen Buchstaben vor ihren Augen. Sie verschwammen zu einer furchteinflößenden Fratze und kicherten böse: »Du Närrin! Hast du geglaubt, du kommst davon?« Mit einem Aufschrei des Entsetzens schleuderte Luzia den Brief von sich. Basilius bückte sich, hob das Pergament auf und gab es ihr zurück. In einem neuerlichen Anlauf las sie:
Jungfer Luzia Gassner,
gegen Euch wurde Klage erhoben. Ihr wurdet von einem Mitglied der Torwache aufs schwerste belastet.
Zur Klärung des Sachverhalts bestelle ich, Ammann der freien Reichsstadt Ravensburg, Euch kraft des mir verliehenen Amtes zu einer Anhörung vor den Stadtrat.
Die Befragung wird am Benedikttag, dem 21. des Lenzmondes, um die dritte Stunde nach dem Mittagsläuten stattfinden.
Zacharias Jost, Ammann der Stadt als Vertreter des Kaisers.
Ravensburg im Jahre der Menschwerdung des Herrn 1484
Luzia ließ das Pergament sinken, sie fühlte, wie ihre Lippen taub wurden und sich ihr Magen verkrampfte. Hin- und hergerissen zwischen Wut und Angst, überkam sie das Gefühl völliger Hilflosigkeit. Sie war der Willkür Schwarzenbergers ausgeliefert und würde es immer sein, solange sie beide in dieser Stadt lebten. Plötzlich sehnte sie sich wie schon lange nicht mehr nach der alten Heimat.
Seefelden – dort hätte sie jetzt in Elisabeths Armen Trost gefunden. Sie hätte ihr einen Kräuteraufguss bereitet, der ihre Seele streichelte, um sie anschließend weinen zu lassen, bis sie der Schlaf auf den sanften Schwingen des Vergessens davongetragen hätte.
»Meinst du, es wird sehr schlimm?«, fragte Luzia,
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