Seelenfeuer
etwas in einer Sprache, die Selene nicht verstand.
Jetzt näherten sich vier Männer, die eine Sänfte trugen. Behutsam hoben sie den alten Mann hinein.
Der Führer des Zugs, ein großer, dunkler Mann, der auf einem gelbbemalten Elefanten thronte, sah mit unergründlicher Miene zu Wulf und Selene hinunter. Erstaunt blickte Selene auf seinen ausgestreckten Arm, auf dem der Falke hockte, der den alten Mann angegriffen hatte. Sein Gefieder und seine Klauen waren rot von Blut, über dem Kopf trug er eine Haube.
Sechs Soldaten stürmten aus dem Zug, umringten Selene und Wulf, führten sie zu einem Pferd und befahlen ihnen aufzusitzen.
Neben dem großartigen Lustpalast des parthischen Herrschers hätte der Palast von Magna wie ein schäbiger Stall gewirkt. Hier gab es so viele Zimmer und Säle, daß es hieß, man könne zehn Jahre lang jeden Tag einen anderen Raum aufsuchen und hätte dennoch nicht einmal die Hälfte gesehen. Über eine Brücke, die ein ausgetrocknetes Flußbett überspannte, zog die Prozession auf dem Palastgelände ein.
Als Selene den Palast erblickte, dachte sie, ist das der Ort, den ich in meinen Visionen gesehen habe? Alabastermauern, die weiß in der Sonne leuchten. War die Vision eine Botschaft der Götter, um mir zu sagen, daß ich in diesen Palast geführt werden würde? Werde ich hier etwas finden, das mich meiner Bestimmung näherbringt?
Durch sieben mächtige Tore führte der Weg des Zuges auf einen weiten Platz, wo sogleich Hunderte von Bediensteten mit Leitern und Fußbänken die Ankommenden umschwärmten. Wulf und Selene meinten, man würde sie in dem wilden Durcheinander übersehen, aber da näherte sich schon ein Trupp parthischer Wachen und umringte ihr Pferd, während sie abstiegen. Man führte sie quer über den Hof durch ein mit goldenen Nägeln beschlagenes Tor.
Sie schritten durch endlose Gänge, die trotz der glühenden Hitze draußen kühl waren, und begegneten fremdartig gekleideten Menschen in farbenprächtigen Gewändern, mit Turbanen auf den Köpfen, die mit Federbüschen und Edelsteinen geschmückt waren. Wulf starrte sie an, und sie musterten den blonden Riesen in den ledernen Gamaschen gleichermaßen neugierig. Als die Wachen sie schließlich durch einen Garten führten, in dessen Mitte ein kleiner See war, blieb Wulf fasziniert stehen. Auf dem Wasser schwammen Schwäne, die ersten, die er gesehen hatte, seit man ihn in seiner Heimat gefangengenommen hatte. Traurigkeit erfaßte ihn. Die Schwäne waren die Tiere der Walküren.
Man brachte Wulf und Selene in ein behaglich eingerichtetes Gemach mit einem eigenen kleinen Garten. Die Wachen entfernten sich, die Türen wurden abgeschlossen.
37
Ein Mann suchte sie auf. Er war in braune Seide gekleidet und trug einen goldgelben Turban. Er stellte sich ihnen als Dr.Singh vor.
»Warum haltet ihr uns gefangen?« fragte Wulf. »Wir haben nichts Unrechtes getan.«
Eingeschüchtert von der Größe des Barbaren, wich Dr.Singh einen Schritt zurück. »Ich versichere euch, daß ihr nicht gefangengehalten werdet. Ihr seid unsere Gäste.«
»Aber ihr schließt die Türen ab.«
»Nur zu eurem Schutz.«
»Wie geht es dem alten Mann?« fragte Selene.
Der Arzt warf ihr einen Blick zu, als erstaunte es ihn, daß sie das Wort ergriffen hatte. Dann wandte er sich Wulf zu und sagte: »Du mußt verstehen, daß hier eine heikle und höchst ungewöhnliche Situation vorliegt. Nur ein Brahmane darf den Daniel von ganz Persien berühren; jeder andere, der es tut, wird bestraft. Doch du hast ihm das Leben gerettet. Wir beschlossen abzuwarten, wie sich der Gesundheitszustand des Daniel entwickeln würde. Er hat das Bewußtsein wiedererlangt und möchte dich sehen.«
»Dann geht es ihm also gut?« fragte Selene.
Wieder gönnte Dr.Singh ihr nur einen flüchtigen Blick, ehe er das Wort erneut an Wulf richtete.
»Der ›alte Mann‹, den du gerettet hast, ist unser Astrologe. Sein vorzeitiger Tod wäre ein Unglück für das ganze Volk gewesen. Aber nun bitte ich dich, mich zu begleiten.«
»Wohin bringst du uns?« fragte Wulf.
»Zum Astrologen. Er möchte den Mann kennenlernen, der ihm das Leben gerettet hat.«
Als Selene mit Wulf zur Tür gehen wollte, sagte Dr.Singh: »Deine Frau nicht. Sie bleibt hier.«
»Aber
sie
hat den alten Mann gerettet. Nicht ich.«
Dr.Singhs Augenbrauen zuckten in die Höhe. »Wie? Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Sie ist eine Heilerin.«
Der Arzt rang nach Luft. »Und sie – sie hat den
Weitere Kostenlose Bücher