Seelenfeuer
anderen Straße.
Reglos hielten sie einander in den Armen, wie um sich in ihrer Enttäuschung und Müdigkeit gegenseitig zu stützen. Dann begann Wulf sachte, Selenes Haar zu streicheln, und Selenes Hände glitten warm über seinen Rücken. Ihre Münder trafen sich zu einem Kuß, der zärtlich und sanft war. Kein Drängen war in ihnen, keine lodernde Leidenschaft; sie hielten einander in liebevoller Zuneigung umschlungen, die Balsam auf ihren müden Seelen war.
Im Schein der Sterne, die über mondweißen Ruinen kreisten, legten sie sich nieder und liebten sich weit in die Nacht, vergaßen für eine kurze Zeitspanne Einsamkeit, Sehnsucht und Verzweiflung.
Die Sonne stieg über den östlichen Gipfeln auf, und Augenblicke später war der Talkessel in gleißendes Licht getaucht. Ein kühler Wind, der jedoch bald glühend heiß und trocken werden würde, fächelte ihnen die Gesichter, während sie durch die Ruinenstadt wanderten. Sie sahen rußgeschwärzte Säulen und das verkohlte Zedernholz der wuchtigen Pfeiler, die im Inferno des von Alexander angefachten Feuers herabgestürzt waren. Sie sahen rissige Mauern aus dunklem Kalkstein, von kunstfertigen Steinmetzen mit Bildern steifer Prozessionen längst vergessener Menschen geschmückt.
Der Führer kam ihnen mit seinen Eseln entgegen. Sie müßten sich eine schattige Unterkunft für den Tag suchen, sagte er, da die Hitze bald unerträglich werden würde. Doch als er den Weg zurückgehen wollte, den sie gekommen waren, protestierten Wulf und Selene. Dies war nicht der Weg in die Heimat. Ob sie nicht nach Norden ziehen könnten, fragten sie. Ob nicht eine Straße aus dem Norden Persiens nach Westen, nach Armenien führe? Der Führer kratzte sich nachdenklich am Kopf und sagte: »Die Straße da drüben führt zu einem alten Lustpalast im Norden. Und von dort geht eine Straße nach Westen, bis nach Europa, wie ich gehört habe.«
Wulf und Selene hatten von dem Palast gehört und wußten, daß er am Ende einer sicheren und schnellen Straße stand. Lieber wollten sie diesen Weg einschlagen als umkehren und riskieren, Lashas Soldaten in die Arme zu laufen.
Der Führer war nicht bereit, sie zu begleiten, und wollte ihnen auch keinen Esel überlassen. Wulf und Selene dankten ihm, sagten ihm Lebewohl und machten sich auf eigene Faust auf den Weg durch die Trümmerstadt.
36
Sie waren noch eine Tagesreise von dem Lustpalast in den nördlichen Bergen entfernt, als sie, vor der Sonne geschützt in einem Eichenwäldchen lagernd, plötzlich einen weißhaarigen Mann hinter einer Felsengruppe sahen. Er lief genau in ihre Richtung, schien sie aber nicht zu bemerken, da sein Augenmerk auf ein Lamm gerichtet war, das in einiger Entfernung vor ihm hersprang. Seine Mütze fiel ihm vom Kopf, und das lange weiße Haar flatterte wie ein Schleier hinter ihm im Wind. Selene fing an zu lachen über den komischen Anblick. Aber da packte Wulf sie am Arm und wies auf einen Schatten, der schnell über den Boden glitt und dem Greis immer näher kam.
Entsetzt blickte Selene in die Höhe. Genau in dem Moment stieß der große Vogel herab und attackierte den Alten. Selene und Wulf sprangen auf und stürzten zur Straße, um dem Greis zu helfen.
Er lag schreiend auf den Knien, die Arme zum Schutz gegen die Angriffe des großen Vogels erhoben, der ihm seine Krallen in den Kopf geschlagen hatte.
Mit einem Sprung war Wulf bei dem Alten, packte den Falken, der sich wütend wehrte, dann aber von seinem Opfer abließ, um sich mit kraftvollen Schlägen seiner Schwingen in die Lüfte zu erheben.
Selene kniete neben dem alten Mann nieder und untersuchte den stark blutenden Kopf, während Wulf schon den Medizinkasten öffnete. Sie arbeitete rasch, um die Blutungen zu stillen, dann wusch sie die Wunde aus, nähte und verband sie. Als sie fertig war und Wulf gerade fragen wollte, was sie nun mit dem Bewußtlosen anfangen sollte, gewahrte sie am Fuß der Hügel einen höchst ungewöhnlichen Anblick. Wulf wurde zur gleichen Zeit aufmerksam und stand langsam auf.
Ein prächtiger Zug von mehr als hundert Menschen, alle wie Fürsten gekleidet, teilweise zu Pferd, teilweise auf buntbemalten Elefanten reitend, kam die Straße herauf. Langsam und gemessen bewegte er sich zum hellen Klang Hunderter von Glöckchen und kam kurz vor Wulf und Selene zum Stehen.
Ohne ein Wort sprang ein Reiter von seinem Pferd und lief zu ihnen. Er kniete neben dem alten Mann nieder, untersuchte ihn, drehte sich dann um und rief
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