Seelenfeuer
Frauen nicht gestattet, die Heilkunde zu studieren. Wir lernen auch nicht lesen und schreiben. Kannst du lesen und schreiben?«
»Ja«, antwortete Selene.
Rani seufzte. »Das muß eine herrliche Welt sein, in der Frauen solche Freiheit genießen.«
Sie klatschte in die Hände, daß die goldenen Reifen an ihren Armen klirrten. Augenblicklich erschien eine Sklavin mit einer Platte, die sie vor den Gästen niederstellte, wobei sie Wulf staunend anstarrte.
»Du bist hier eine Kuriosität«, bemerkte Rani, nachdem die Sklavin sich zurückgezogen hatte, und bedeutete ihren Gästen, daß sie sich vom Wein und Süßigkeiten bedienen sollten. »Bald werden sich die Leute zusammenscharen, um dich zu bestaunen. So war es auch, als die Römer hier waren.«
»Die Römer?« fragte Selene. »So weit im Osten?«
»Wir befinden uns im parthischen Reich, und Parthien ist stark und mächtig, aber der römische Adler ist habgierig und möchte auch Persien unter seine tödlichen Fittiche nehmen. Vor drei Monaten war hier im Palast eine römische Delegation. In friedlicher Mission, wie es hieß. In diplomatischer Mission. Doch der Führer der Delegation war einer ihrer Generäle, ein Militär! Ein harter, grausamer Mann namens Gaius Vatinius.«
Wulf fuhr auf. »Gaius Vatinius?«
»Du hast von ihm gehört?« fragte Rani.
»Gaius Vatinius war
hier
?« rief Selene. Sie sah Wulf an. »Kann es derselbe sein?«
»Er befehligt das Heer am Rhein«, bemerkte Rani.
Wulf sprang auf. »Wann ist er von hier fortgezogen? Welchen Weg hat er genommen?«
»Beruhige dich, mein Freund. Es gibt Männer an diesem Hof, die dir alles sagen können, was du wissen willst. Ich selber habe die Römer nie zu Gesicht bekommen; Dr.Chandra berichtete mir von ihrem Besuch. Aber ich weiß, daß der General vor drei Monaten fortgezogen ist und daß er an den Rhein zurückkehren wollte.«
Selene sah zu Wulf auf, der mit geballten Fäusten dastand. Eisiges Feuer blitzte in seinen blauen Augen.
»Ich sehe jetzt«, sagte Rani langsam, während sie die Gesichter ihrer beiden Gäste betrachtete, »daß es kein Zufall ist, daß ihr nach Persien gekommen seid. Die Götter haben euch aus gutem Grund hierhergeführt.«
Sie kniff die Augen zusammen und dachte, ist es möglich, daß einer von euch der von den Sternen Angekündigte ist, der Dr.Chandras Leben hier zu seinem Ende bringen wird?
»Ich bitte dich, mich noch einmal zu besuchen, ehe ihr aus Persien fortzieht«, sagte sie zu Selene. »Ich möchte hören, wie Frauen in eurer Welt Heilerinnen werden können.«
Doch Selenes Blick war immer noch auf Wulf gerichtet. »Wir sind in Eile, Hoheit. Wir können hier nicht verweilen.«
»Bist du auch auf dem Weg an den Rhein?«
Jetzt erst sah Selene Rani an. Ihre Stimme war bewegt, als sie sagte: »Ich muß in meine Heimat Syrien zurückkehren. Dort wartet meine Berufung.«
»Deine Berufung?«
Selene berichtete ihr kurz von ihrer Begegnung mit dem Tod auf dem Euphrat und von den Visionen, die sie in ihren Fieberträumen gesehen hatte. Es war nicht leicht, einem anderen Menschen begreiflich zu machen, wie sie in diesen Visionen nochmals Ereignisse aus ihrer Vergangenheit durchlebt hatte, die kraft dieser Träume völlig neue Bedeutung gewonnen hatten: der Teppichhändler aus Damaskus, der beinahe auf der Straße gestorben wäre; das Gedränge der Kranken und Verletzten vor den Palasttoren in Magna; der schreckliche Gilgamesh-Platz in Babylon. Jede dieser Episoden war von neuem lebendig geworden, und diesmal hatte sie verstanden, was sie in ihrem Leben zu bedeuten hatten.
»Vorher handelte ich ohne tieferes Verständnis«, erklärte sie Rani mit Leidenschaft. »Da wendete ich nur die Fertigkeiten an, die meine Mutter mich gelehrt hatte. Aber als ich diese Momente in meinen Träumen noch einmal durchlebte, erlebte ich mich selbst dabei als eine andere.
Die Frau, die mich großgezogen hat, war nicht meine leibliche Mutter, mußt du wissen. Mein Vater starb in der Nacht, als ich geboren wurde, und er sagte der Heilerin, auf mich warte eine Bestimmung, die ich suchen müsse. Als die Visionen in meinen Träumen zu mir kamen, hatte ich eine erstaunliche Offenbarung: Ich erkannte plötzlich, daß meine Berufung als Heilerin und die Suche nach meinen Wurzeln nicht zwei getrennte Dinge sind, sondern miteinander verknüpft sind. Die Götter offenbarten mir, daß meine Berufung als Heilerin und die Frage, wer ich bin, untrennbar zusammengehören. Und wenn ich diese Frage
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