Seelenfeuer
feststellen, wie es um ihn bestellt ist. Sein Gesicht hat eine ungesunde Farbe. Laß mich seine Verletzung untersuchen.«
»Du darfst ihn nicht berühren.«
»Aber ich habe ihn doch schon berührt!«
»Deine Anwesenheit hier ist störend. Geh jetzt wieder.«
Sprachlos starrte Selene den Arzt an. Als sie flüchtig den Blick über seine Schultern hob, sah sie in der Ecke immer noch den schwarzbärtigen Mann stehen, der sie beobachtete.
»Aber das ist ja läch –«
»Geh«, fuhr Dr.Singh sie an und winkte den Wachen.
Auf dem Weg hinaus sah Selene, daß Dr.Singh zu dem Bärtigen in der Ecke getreten war und mit ihm sprach.
38
Auf ihrem Sofa ruhend, seidene Kissen im Rücken, musterte Rani die beiden Fremden mit unverhohlener Neugier. Ein ungewöhnliches Geschöpf, dieses Mädchen, die helle Haut und dazu das rabenschwarze Haar! Und sie war groß. Rani schätzte, daß sie, wenn sie stehen könnte, ihr kaum bis zur Schulter reichen würde. Und beinahe noch ungewöhnlicher war ihr Gefährte. Dieses Haar, so hell wie die Sonne! Rani hatte von solchen hellhaarigen Menschen gehört, aber sie hätte nicht gedacht, daß sie je einen zu Gesicht bekommen würde.
»Man hat mir berichtet, daß ihr unserem Hofastrologen das Leben gerettet habt«, sagte sie freundlich. »Dafür ist euch mein Dank und der des ganzen Hofes gewiß. Und zweifellos auch der Dank der Götter.«
Selene fühlte sich an Lashas Gemächer in Magna erinnert. Die Räume, in denen diese Prinzessin lebte, waren weit prachtvoller als alles, was Selene in Magna gesehen hatte. In den Marmorboden waren goldene Kacheln eingelegt; fremdartige Vögel stolzierten umher, die lange Schwänze herrlich gezeichneter Federn hinter sich herzogen. Als einer von ihnen, ein weißer, die Schwanzfedern aufstellte und zu einem herrlichen weißen Fächer ausbreitete, klatschte Selene entzückt in die Hände.
»Ihr seid von weither gekommen«, sagte Rani lächelnd. »Was hat euch nach Persien geführt?«
Selene wandte den Blick von den Pfauen und musterte die Prinzessin. Sie war klein und braunhäutig wie viele der Bewohner des Palasts, doch ihr schien der Hochmut zu fehlen, den die anderen unverhohlen zur Schau trugen. Selene machte sich ihre Gedanken über die unter der Satindecke verborgenen Beine der Prinzessin.
»Wir sind auf der Suche nach einem Weg zurück in unsere Heimat hierher verschlagen worden. Das Schicksal hat uns weit von unserem Weg weggeführt.«
Rani nickte mit Verständnis. Niemals würde sie vergessen, wie das Schicksal sie selber sechsunddreißig Jahre zuvor in die Irre geführt hatte; sie sah es noch heute als niederträchtigen Streich an, den sie niemals verzeihen konnte.
»Dr.Chandra hat mir von eurem Besuch im Pavillon berichtet. Er sagte, du hättest den Astrologen berühren wollen. Weißt du nicht, daß du als Frau das nicht darfst? Nimrod gehört der Kaste der Brahmanen an.«
Selene dachte an den morgendlichen Besuch zurück. Wer war Dr.Chandra? Sie erinnerte sich des kleinen, bärtigen Mannes, der sie mit so kritischem Blick beobachtet hatte.
»Man darf mir meine Unwissenheit nicht zur Last legen, Hoheit«, antwortete sie. »In unserer Welt gibt es keine solchen Verbote. Ich bitte um Verzeihung, wenn wir eure Sitten verletzt haben. Mein Freund und ich möchten nur möglichst bald weiterziehen. Wir hörten, daß es von hier eine Straße gibt, die nach Westen führt …«
»Dr.Chandra sagte mir, daß du Nimrods Verletzung sachkundig behandelt hast und daß du behauptest, eine Heilerin zu sein. Ist das wahr?«
»Ich bin ein wenig in der Heilkunde bewandert, ja.«
Rani maß sie mit einem nachdenklichen Blick. »In deiner Heimat ist es Frauen erlaubt, die Heilkunst auszuüben?«
»Aber ja«, antwortete Selene, erstaunt über die Frage.
Rani schüttelte verwundert den Kopf. »Ich weiß so wenig von der Welt außerhalb dieser Mauern. Und ich empfange niemals Besuch. Alle Nachrichten und Neuigkeiten erfahre ich von Dr.Chandra. Er ist mein einziger Freund und mein Leibarzt.«
Selene sah automatisch zu der Satindecke über den leblosen Beinen, und Rani sagte: »Ich bin seit sechsunddreißig Jahren gelähmt.«
Einen Moment lang sah Rani sie mit ihren schwarzen, von dichten Wimpern umkränzten Mandelaugen eindringlich an, und es schien Selene, als wolle sie ihr mit diesem Blick etwas mitteilen. Aber schon war der Moment vorbei, und Rani sah weg.
»Ich möchte gern mehr über dich wissen«, sagte sie. »In diesem Teil der Welt ist es den
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