Seelenfeuer
gelöst habe, werden sich meine Berufung und mein Wissen um mich selbst vereinen, damit ich das Werk vollbringen kann, zu dem ich von Geburt ausersehen bin.«
Rani sah Selene mit einem Blick an, der in weite Ferne gerichtet zu sein schien. »Es ist, als zögest du die Kraft zu heilen nicht aus dem, was man dich gelehrt hat, sondern unmittelbar aus deinem Inneren, aus deiner Seele«, sagte sie leise. »Als wärst du zur Heilerin geboren.«
»Ja«, antwortete Selene und schaute die Prinzessin wortlos an.
Rani lächelte. »Und weißt du, was für ein großes Werk das ist, auf das die Götter dich vorbereiten?«
»Ich glaube«, antwortete Selene ruhig, »daß es meine Aufgabe ist, Wissen zu sammeln, das dem Wohl der Kranken und Leidenden dient, und dieses Wissen dorthin zu tragen, wo es den meisten Menschen am nützlichsten ist.«
»Und wo ist das?«
»Das weiß ich nicht.«
»Dann mußt du in deine Heimat zurückkehren und tun, was dir bestimmt ist. Ich beneide dich.«
Traurigkeit schwang in den letzten Worten. Selene sah sich in dem prächtigen Raum mit den seidenen Behängen, den goldenen Lampen und den stolzen Pfauen um und verstand sie nicht ganz. Schließlich aber glitt ihr Blick wieder zu der kleinen Frau auf dem Ruhebett.
»Soll ich deine Beine untersuchen?« fragte sie. »Ich weiß, daß andere es vor mir getan haben, aber vielleicht …«
»Du darfst. Aber mir ist nicht zu helfen.«
Wulf ging in den Garten der Prinzessin hinaus, ließ den Blick über Blumen und Bäume schweifen und sah doch nur das Gesicht des Gaius Vatinius. Selene schlug unterdessen die Satindecke zurück, die die kleinen braunen Füße der Prinzessin verbarg.
»Ich gehöre einer der edelsten Familien Indiens an«, erzählte Rani, während sie zusah, wie Selene ihre Füße betastete, »und als ich zwölf Jahre alt war, versprach mein Vater mich einem persischen Prinzen. Man brachte mich aus dem Tal des Ganges hierher, damit ich einen Mann heiraten sollte, den ich nie gesehen hatte. Ich sollte eine seiner vielen Frauen werden und den Rest meines Lebens unter Fremden an einem ausländischen Hof verbringen. Am Vorabend der Eheschließung warf mich ein schweres Fieber nieder. Es brannte tagelang, und als ich mich langsam erholte, stellte ich fest, daß in meinen Beinen kein Leben mehr war.«
»Fühlst du das?« fragte Selene und kniff leicht.
»Nein. Der Prinz weigerte sich, mich zu heiraten, und mein Vater wollte mich nicht zurückhaben. Man brachte mich hierher und vergaß mich. Sechs Jahre lang war ich entsetzlich einsam – mein einziger Freund war Nimrod, der mich das Lesen und Schreiben lehrte, damit ich mir wenigstens ein bißchen Zerstreuung verschaffen konnte. Als ich achtzehn wurde, kam Dr.Chandra. Er stammte wie ich aus dem Ganges-Tal.«
Selene hob Ranis rechten Fuß und fuhr mit dem Daumennagel über die nackte Sohle. Die Zehen krümmten sich. Sie hob den linken und tat das gleiche, und wieder krümmten sich die Zehen. Verwundert krauste Selene die Stirn.
Als sie die Decke wieder über den Beinen hatte, sagte Rani: »Siehst du? Es ist ein Leiden der Wirbelsäule. Es ist unheilbar. Aber ich danke dir, daß du mir helfen wolltest. Wirst du mich noch einmal besuchen, ehe du fortgehst?«
Draußen im Korridor, auf dem Weg zu ihrem Zimmer, sagte Selene leise zu Wulf: »Hier geht etwas Seltsames vor. Den Beinen der Prinzessin fehlt nichts. Sie müßte eigentlich in der Lage sein zu gehen.«
Dann dachte Selene an Dr.Chandra und fragte sich, was für eine geheimnisvolle Macht er über die Prinzessin hatte.
39
Zu ihrer Freude wurde es Selene gestattet, den Pavillon wieder aufzusuchen; ja, man ermutigte sie sogar dazu. Und sie nahm die Gelegenheit gern wahr, da sie wußte, daß sie dort viel lernen konnte.
Während Wulf stundenlang über Landkarten saß und mit Männern sprach, die die Straßen nach Westen kannten, verbrachte Selene viele Tage im
chikisaka.
Sie lernte, daß diese Zufluchtsstätte für die Kranken keine Besonderheit des Palasts war, sondern daß es solche Unterkünfte überall in Persien und Indien gab. Sie waren, wie man ihr berichtete, ursprünglich von Buddha eingerichtet worden, der seine Jünger lehrte, sich der Kranken und Leidenden anzunehmen.
Selene erfuhr, daß die Betten nach Osten gewandt standen, damit die Patienten den Himmelsgeistern, die jenen Teil der oberen Sphären bewohnten, ihre Verehrung darbringen konnten; das Schwert, das neben dem Bett lehnte, war gedacht, die bösen Geister von der
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