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Seelenfeuer

Seelenfeuer

Titel: Seelenfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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das tat sie auch jetzt. Sie leerte ihr Hirn von allen Gedanken und richtete ihr inneres Auge auf einen Leuchtturm am Horizont. Endlich würde sie sie sehen, die großartige Schule der Medizin in Alexandria.
    Rani war jetzt ganz grau, und ihre Bewegungen waren langsamer geworden. Sie war siebenundfünfzig Jahre alt, aber ihre Augen sahen immer noch gut, ihr Verstand war unvermindert scharf und wach, ihre Hände waren so flink und geschickt wie eh und je. Der Gedanke, daß sie eines Tages diese glänzende Schule sehen würde, wo hohe Gelehrsamkeit und wissenschaftliches Forschertum vereint waren, hatte sie jung erhalten, das wußte sie. Die Schule in Alexandria war noch bedeutender als die Schulen in Madras und Peshawar, die zu besuchen vor langer, langer Zeit ihr sehnlichster Wunsch gewesen war.
    Seit dem Tag vor sieben Jahren, als Rani den ersten Schritt in die Freiheit getan hatte, hatte sie nicht mehr zurückgeblickt. Aber sie tat es jetzt, weil sie es angebracht fand – es war auf den Tag genau sieben Jahre her, daß sie mit Selene und der damals zweijährigen Ulrika die Palasttore durchschritten und den Weg in die Freiheit eingeschlagen hatte.
    Mit leiser Wehmut erinnerte sich Rani des Abschieds von Nimrod, der sechsunddreißig Jahre lang ihr einziger Freund gewesen war. Er hatte geweint, und er hatte sie geküßt; es war der erste und einzige Kuß, den Rani je von einem Mann empfangen hatte. Danach hatte er ihr zur Erinnerung seinen wertvollsten Besitz geschenkt, einen magischen Stein.
    Es war ein Türkis von der Größe eines Zitronenschnitzes, und er hatte die Macht, dem, der ihn in Besitz hatte, Glück zu bringen. Seine Farbe wechselte auf geheimnisvolle Weise von Grün zu Blau, wenn man sich seiner Glückskraft bediente. Auf einer Seite hatte er eine rostfarbene Maserung, die auf den ersten Blick an zwei Schlangen erinnerte, die sich um einen Baum wanden – Symbol der Ärzte und Heiler überall auf der Welt. Bei näherem Hinsehen jedoch konnte man eine Frau erkennen, die mit ausgestreckten Armen stand.
    Und hat der Stein mir nicht Glück gebracht? fragte sich Rani in der dunklen, stillen Nacht von Jerusalem. Ich bin frei und ich reise durch die Welt, wie ich es mir immer gewünscht habe. Alle meine Träume sind wahr geworden. Wenn jetzt nur noch …
    Ja, wenn jetzt nur noch die Träume ihrer Freundin sich erfüllen würden! Doch Selene, so schien es Rani, jagte einem flüchtigen Traum nach, der sich vielleicht niemals erfüllen würde. Sie wünschte, Selene würde ihre Suche nach Andreas aufgeben, damit ihr rastloser Geist endlich Frieden finden könnte. Denn solange die Erinnerung an Andreas wach war, würde Selene in diesem Leben niemals wahre Zufriedenheit kennenlernen. Ranis letzter Gedanke, ehe sie in einen tiefen Schlaf glitt, galt Alexandria. Vielleicht würde Selene dort endlich das Ende ihres Wegs erreichen.
     
    Selene lag immer noch wach und lauschte in die Stille der Nacht. Sie war wieder in Antiochien, eilte wie damals, vor zwei Jahren, mit klopfendem Herzen durch die vertrauten Straßen zur Oberstadt, an der Stelle vorbei, wo der Teppichhändler gestürzt war. Je näher sie der Straße kam, in der Andreas’ Villa stand, desto schneller wurde ihr Schritt.
    Die Mauer, das Tor, und dann stand sie plötzlich vor einem wildfremden Haus und erfuhr das Unglaubliche: Die Villa war vor Jahren abgebrannt, und niemand wußte etwas über die früheren Bewohner.
    Sie war wie versteinert gewesen. Sie hatte sich an die Hoffnung geklammert, daß der königliche Bote sich getäuscht hatte, daß er vielleicht zu faul gewesen war, richtig zu suchen, daß irgendein schreckliches Mißverständnis vorlag und Andreas noch immer hier lebte, in seinem Haus, und auf Selenes Rückkehr wartete.
    Das Herz war Selene schwer gewesen, als sie Rani und ihre Tochter ins Armenviertel Antiochiens hinuntergeführt hatte, um ihnen das Haus zu zeigen, in dem sie aufgewachsen war. Sie wollte es vor allem Ulrika zeigen. Während sie vor dem kleinen Gärtchen gestanden hatten, meinte Selene, im gleißenden Sonnenschein zwei traumhafte Gestalten zu sehen – Mera und die junge Selene bei der Arbeit im Garten. Sie war erstaunt darüber, wie klein das Häuschen war.
    Tieftraurig und niedergeschlagen hatte Selene Antiochien wieder verlassen. Was hatte sie zu finden gehofft? Ihre Jugend? Einen Traum? Hatte sie erwartet, dort die Vergangenheit anzutreffen, wie sie in ihrem Gedächtnis bewahrt war, wo sich doch so viel in ihrem eigenen

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