Seelenfeuer
Mutter aus dem Kindbett.
Darum
erinnere ich mich so gut an jene Nacht.«
Die Soldaten hatten die junge Frau und den Säugling lebend mitgenommen, hatte der Palmyrene berichtet. Was aus der Heilerin geworden war, wußte er nicht zu sagen.
»Ich werde nicht ruhen«, sagte Selene zu der wie gebannt lauschenden Elisabeth, »bis ich weiß, was aus ihnen geworden ist – aus meiner Mutter und meinem Zwillingsbruder. Ich muß wissen, ob sie am Leben sind oder tot. Aus welcher Familie ich stamme, wessen Blut in meinen Adern fließt.«
»Und du hast nichts, was dich mit deiner Familie verbindet?« fragte Elisabeth.
»Doch, ich hatte einmal etwas«, sagte Selene leise. »Aber ich habe es jemandem geschenkt …«
Zwei Jahre waren Selene und Rani nach Ulrikas Geburt in Persien aufgehalten worden: zum einen durch eine Seuche, derentwegen alle Reisen über die Landesgrenzen beschränkt worden waren; zum anderen, weil sie den königlichen Kurier erwarteten, der Selene Nachricht von Andreas bringen sollte.
Aber als der Bote im Frühjahr nach Persien zurückgekehrt war, hatte er berichtet, daß er trotz gründlicher Suche in ganz Antiochien keinen Arzt namens Andreas hatte finden können. Auch niemanden, der ihn kannte. Er hatte Selene ihren Brief ungeöffnet zurückgegeben.
Elisabeth musterte die beiden Frauen fasziniert. Ihrem Äußeren nach hätte man sie für ganz gewöhnliche Reisende halten können. Beide trugen lange Leinengewänder und darüber Reiseumhänge mit Kapuzen, die groß genug waren, auch ihre Gesichter zu verbergen. Wie alle Reisenden hatten sie am Gürtel einen getrockneten Flaschenkürbis hängen, in dessen Innerem ein schwerer Stein lag, damit er sank, wenn sie aus einem Brunnen Wasser schöpfen wollten. Beide trugen sie auch einen kleinen Dolch am Gürtel, und im Verborgenen gewiß Beutel mit Geld, dachte Elisabeth.
Elisabeth konnte ihre Neugier nicht bezähmen. »Wie kommt es, daß ihr so frei und ungebunden reisen könnt?« fragte sie.
»Wir sind Heilerinnen«, erklärte Rani. »Wir können uns unsere Reise verdienen.« Daß sie außerdem sehr reich war, behielt Rani für sich. Bei der Abreise aus Persien hatte sie ihren ganzen Besitz mitgenommen. Sie trugen ihn jetzt in ihre Kleider eingenäht und in Ziegenhäuten verborgen, die wie Wasserschläuche aussahen, mit sich.
»Heilerinnen«, rief Elisabeth erstaunt. »Deshalb konntet ihr mir so gut helfen. Darum habt ihr so wunderbare Arzneien bei euch.« Neid spiegelte sich in ihren Augen. »Ihr könnt reisen, wohin ihr wollt, und ihr wißt, daß ihr immer und überall willkommen seid.«
Ja, dachte Selene. Immer und überall … Denn für sie würde es keine Ruhe geben, keinen Ort, den sie Zuhause nennen konnte, solange sie Andreas nicht gefunden hatte.
Nach Antiochien waren Selene und Rani mit dem Kind nach Palmyra gezogen, von der Hoffnung getragen, daß Andreas sich nach der vergeblichen Suche nach Selene dort niedergelassen hatte. Als sie ihn auch dort nicht gefunden hatten, war Selene bewußt, wohin sie sich als nächstes wenden mußte: nach Alexandria, wo die berühmte Schule der Medizin war, die Andreas vor langen Jahren besucht hatte. Vielleicht, sagte sich Selene, hatte es ihn dorthin zurückgezogen.
Wieder erkannte Selene, daß die Götter sie führten. Es konnte kein Zufall sein, daß die beiden Ziele, die sie verfolgte – die Wahrheit über ihre Herkunft zu erfahren und Andreas zu finden – in derselben Stadt warten sollten. Mit jedem neuen Tag, mit jeder Meile, die sie zurücklegte, wurde Selene sicherer, daß die Visionen ihrer Fieberträume zehn Jahre zuvor ihr die Wahrheit gezeigt hatten: Ihre Identität und ihre Berufung als Heilerin waren auf bisher noch unbekannte Weise miteinander verknüpft.
Aber nun mußte sie doch bald das Ende des Wegs erreicht haben! Die Götter mußten sehen, daß der Wissensschatz, den Selene auf ihren Irrfahrten gesammelt hatte, unermeßlich reich war.
Nach der Abreise aus Persien hatten Selene und Rani eigentlich direkt nach Antiochien ziehen wollen, doch alle möglichen Hindernisse hatten ihnen Umwege aufgezwungen, so daß sich der Marsch nach Westen über sieben lange Jahre hingezogen hatte. Doch in dieser Zeit waren Selene und Rani nicht müßig gewesen. In jeder Stadt, jedem Dorf, jeder Oase hatten sie mit Heilern, mit Ärzten, mit Medizinmännern und den weisen Frauen wandernder Stämme gesprochen, neue Heilmittel und neue Verfahren kennengelernt, hatten sich das Gute und Hilfreiche
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