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Seelenfeuer

Seelenfeuer

Titel: Seelenfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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angeeignet. Sie hatten den Gilgamesh-Platz in Babylon aufgesucht und von den Ärzten gelernt, die dort vorüberkamen; sie hatten in Palmyra mit den Priestern des Äskulap gesprochen; und vor wenigen Tagen erst, als sie von Petra herauf der Westküste des Toten Meeres gefolgt waren, hatten sie eine Nacht in einem Kloster verbracht und die saubere kleine
infirmaria
besucht, wo die Mönche ihre kranken Brüder pflegten.
    Selene war bereit. Die Götter würden erkennen, daß sie nun bald ihr Leben und ihre gemeinsame Arbeit mit Andreas aufnehmen mußte.
    Rani brach das Schweigen. »Du mußt jetzt ruhen«, sagte sie zu Elisabeth. »Du hast Schlimmes durchgemacht. Du mußt schlafen, damit deine Wunden heilen können.«

43
    Hinkend stieg Selene die Treppe zum oberen Zimmer in Elisabeths kleinem Haus hinauf. Ihr Oberschenkel schmerzte, eine Erinnerung an die alte Verletzung, die sie auf der Flucht aus Babylon davongetragen hatte. Sie meldete sich oft, wenn Selene einen anstrengenden Tag hinter sich hatte.
    Der Geruch der Schafwolle, die in Säcken an den Wänden lag, erfüllte den Raum. Elisabeth spann die Wolle für das Tuch, das sie webte, selbst. Ulrika schlief schon, auf einer Matte zusammengerollt, eine weiche Decke über ihrem kleinen Körper.
    Selene zog ihre Sandalen aus und legte sich neben ihr Kind. Bald, meine Kleine, dachte sie, sind unsere Irrfahrten vorbei. Bald, bald …
    Nicht daß Ulrika sich je beklagt hätte. Wie für das unstete Wanderleben geboren, fand sie sich in jeder Herberge und in jedem Zelt zurecht, nahm die Monate auf der Straße als Selbstverständlichkeit hin. Nie stellte sie ihr ungewöhnliches Leben in Frage, es war einfach so, wie ihre Mutter und Rani es für richtig hielten. Neid auf andere Kinder, die an einem festen Ort lebten, kannte Ulrika nicht.
    Sie fand ihr Leben schön und aufregend. Jeden Tag gab es etwas Neues zu sehen, etwas Aufregendes zu erleben. Von den Leuten bekam sie kleine Geschenke, vor allem wenn Selene und Rani einem Kranken geholfen hatten, und ihre Mutter und Rani lehrten sie ständig Neues, zeigten ihr, wie man Kräuter zog und erntete und wozu man sie dann verwendete. Und wenn sie einmal Angst hatte, wie zum Beispiel bei einem Gewitter, waren immer ihre Mutter und Rani zur Stelle, um sie zu trösten.
    Sie hätte sich kein besseres Leben wünschen können. Sie hatte Liebe, Geborgenheit und Abenteuer. Und doch weinte sich Ulrika jeden Abend in den Schlaf. Selene und Rani wußten nichts davon.
    Selene streckte sich aus und legte, wie es ihr zur Gewohnheit geworden war, ihre Hand auf die Stirn des Kindes. Kinder waren so zart, so anfällig für Krankheiten. Der schlimme Husten, der Ulrika in Antiochien befallen hatte und zu einer bösen Lungenentzündung geworden war, hatte Selene so erschreckt, daß sie jetzt ständig um die Gesundheit ihrer kleinen Tochter fürchtete.
    Ulrikas Stirn war warm und trocken. Selene atmete auf und legte ihren Arm über den festen, kleinen Körper ihrer Tochter. Sie war jetzt schon so groß wie Rani, würde als Erwachsene sicher größer werden als Selene, die selbst von hohem Wuchs war. Es war das Erbe ihres Vaters, genau wie die Farbe ihrer Augen und der Schnitt ihres Gesichts mit den kräftigen Wangenknochen. Immer wieder kam es vor, daß die Leute Ulrika anstarrten; ihr Haar war von ungewöhnlicher Farbe, nicht gelb, sondern von dem dunklen Ocker der Wüste bei Sonnenuntergang, und ihre Augen waren von einem so hellen Blau, daß sie manchmal beinahe farblos wirkten. Sie würde einmal eine schöne Frau werden.
    Sie ist ein wunderbares Kind, dachte Selene und drückte den kleinen Körper an sich. Sie wußte nicht, daß Ulrikas Unbeschwertheit eine Maske war, hinter der sich heimlicher Schmerz versteckte. Selene und Rani, so gefangen von ihrer Arbeit als Heilerinnen und ihrem Bemühen zu lernen, sahen nicht, daß das kleine Mädchen sich langsam von ihnen zurückzog, daß die kindliche Lebenslust, von der sie Ulrika beseelt glaubten, schon seit langem einer stillen Schwermut gewichen war.
    Ulrika entwickelte sich immer mehr zu einem traurigen, viel zu ernsten kleinen Mädchen, das nicht wußte, wohin es gehörte.
     
    Nachdem Rani sich niedergelegt hatte, nahm sie die kleine Statuette Dhanvantaris, des Hindugottes der Heilkunde, und stellte sie neben ihr Kopfkissen. Schlafen würde sie noch lange nicht; nicht weil sie nicht müde war, sondern weil es seit mehr als zwanzig Jahren ihre Gewohnheit war, vor dem Einschlafen zu meditieren. Und

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