Seelenfeuer
die die weise Frau ihres Stammes war. Das Kind wußte auch, daß sein Vater ein Fürst seines Volkes gewesen war.
Aber die Wahrheit über das Schicksal ihres Vaters hatte sie ihr verschwiegen. »Wie kann ich einem kleinen Kind begreiflich machen, warum sein Vater nicht hier ist?« hatte sie an jenem Abend in Petra zu Rani gesagt. »Wie soll ich ihr erklären, daß er fortgegangen ist, in ein anderes Land? Daß er eine andere Familie hat? Wie soll ich ihr erklären, warum ich ihm nicht von ihr erzählen konnte? Sie würde mir niemals verzeihen, daß ich ihn fortgehen ließ, und sie würde nicht begreifen, daß ich es tun mußte. Es ist besser, ihr zu sagen, daß er tot ist. Vorläufig wenigstens. Wenn sie älter ist, sage ich ihr die Wahrheit.«
»Und wann wird das sein?« hatte Rani skeptisch gefragt. Sie war nicht überzeugt davon, daß Selene richtig handelte.
Ja, wann wird das sein? fragte sich Selene. Keinesfalls schon jetzt. Ulrika ist erst neun Jahre alt. Am Tag ihrer Einkleidung, wenn sie sechzehn wird, werde ich ihr alles sagen.
Doch Ulrika stellte ständig Fragen nach ihrem Vater; in letzter Zeit ging das beinahe bis zur Besessenheit. Und Selene begann sich zu fragen, ob sie ihr die Wahrheit nicht schon jetzt, an diesem Abend in Elisabeths Haus sagen sollte. Ulrika vergötterte ihren Vater. Er war, das wußte Selene, ihr großer Held. Sie konnte nicht genug davon bekommen, von seinen Abenteuern zu hören. Vielleicht, dachte Selene, würde sie, wenn sie die Wahrheit wüßte, ihren Vater mehr als Menschen sehen, ihn weniger idealisieren.
Und mich dafür hassen, daß ich ihn gehen ließ …
Selene fragte sich oft, ob Wulf seine heimatlichen Wälder erreicht, seine Frau und seinen Sohn wiedergefunden hatte, ob er Gaius Vatinius endlich gegenübergetreten war und Vergeltung geübt hatte.
»Woher kommt ihr?« fragte Elisabeth, während sie ihren Gästen Wein hinstellte.
»Zuletzt waren wir in Palmyra«, antwortete Selene, froh um die Ruhe und Stille in Elisabeths kleinem Haus nach der langen beschwerlichen Reise durch die Wüste. »Aber ursprünglich kommen wir aus Persien.«
»Aus Persien!« rief Elisabeth. »Aber das liegt ja auf der anderen Seite der Welt.«
Ja, dachte Selene, ein ganzes Leben entfernt. Beinahe ein Jahrzehnt war vergangen, seit sie mit Wulf zusammen nach Persien gekommen war. Und vor zwei Jahren war sie voller Träume und Hoffnung endlich nach Antiochien zurückgekehrt …
»Seid ihr für die Festtage nach Jerusalem gekommen?« fragte Elisabeth.
»Nein. Jerusalem ist nur eine Zwischenstation auf unserer Reise. Wir sind seit sieben Jahren auf Wanderschaft.«
»Und wohin wollt ihr?«
»Nach Ägypten.«
»Was ist in Ägypten?«
Selenes Gesicht bekam einen träumerischen Ausdruck. »Ich bin auf der Suche nach meiner Familie«, antwortete sie, und ihre Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. »Ich bin in Palmyra geboren, aber meine Eltern kamen aus Alexandria. Ich hoffe, dort eine Spur von ihnen zu finden.« Und, fügte sie für sich hinzu, Andreas zu finden.
Sieben Monate zuvor waren Selene, Rani und Ulrika nach Palmyra gekommen, fast auf den Tag genau dreizehn Jahre nach dem Überfall auf die Karawane und Selenes Entführung nach Magna. Sie hatte in Palmyra Erkundigungen eingezogen und war durch einen glücklichen Zufall auf einen Mann gestoßen, der sich des Römers und seiner schwangeren jungen Frau erinnerte, die an jenem schicksalhaften, sturmgepeitschten Abend vor siebenundzwanzig Jahren in die Stadt gekommen waren.
Er erinnerte sich an den Tag, weil die Karawane aus Alexandria, mit der der vornehme Römer und seine Frau gereist waren, in der Herberge seines Vaters Unterkunft gesucht hatte. Der Herbergswirt hatte das Paar zum Haus einer Heilerin am Stadtrand gewiesen und hatte ihm zwei Esel aus seinem Stall zur Verfügung gestellt. Als Selene und Rani meinten, es wäre doch ungewöhnlich, daß der Palmyrene sich nach so langen Jahren an diese kleine Episode erinnerte, hatte dieser gesagt: »Bald nachdem der Römer und seine Frau fortgegangen waren, kamen Soldaten in die Herberge. Sie wollten wissen, wohin die beiden verschwunden wären. Mein Vater berichtete ihnen von der Heilerin, und einer der Soldaten packte mich und befahl mir, sie zu dem Haus zu führen. Ich war damals noch ein Knabe und hatte Todesangst. Ich führte sie zum Haus der Heilerin. Danach versteckte ich mich bei einem Fenster und beobachtete, was sie taten. Sie töteten den Römer und rissen die junge
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