Seelenfeuer
Stärkeres als die Liebe.«
Elisabeths Weinen wurde stiller.
»Er ist nicht zum Soldaten geschaffen«, sagte sie leise. »Cornelius ist ein sanfter Mensch. Er ist ein Träumer. Ich habe nie zuvor jemanden wie ihn gekannt. Und als wir uns das erstemal begegneten, da war es, als ob wir uns schon immer geliebt hätten. Kannst du das verstehen, Selene?«
»Ja.«
»Wir können doch nichts dafür, daß unsere Völker verfeindet sind, daß sein Volk das meine unterdrückt. Wir wollen nur in Frieden und Glück miteinander leben.«
Selene stand auf und ging zu dem Wasserschlauch, der in der Ecke hing. Sie füllte einen Becher, gab ein paar Tropfen Flohkrautöl dazu.
»Hier«, sagte sie. »Trink das. Dann schläfst du besser.«
»Du bist sehr gut zu mir«, sagte Elisabeth, nachdem sie das Wasser getrunken hatte. »Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ihr mir nicht geholfen hättet. Wie kann ich es euch vergelten?«
Selene lächelte. »Ich hätte gern etwas von deiner Schafwolle.«
»Von der Schafwolle?«
»Ich verwende sie zur Behandlung bei Hautleiden. Ich brauche nur ein wenig. Und ich glaube«, fügte sie in beschwichtigendem Ton hinzu, »du solltest dir um Cornelius keine Sorgen machen. Beim Heer kümmert man sich schon um ihn.«
»Ja – sie haben ihn sicher ins
valetudinarium
gebracht.«
»Ins
valetudinarium
? Was ist denn das?«
Elisabeth suchte vergeblich nach einer Übersetzung ins Aramäische. »So nennen es die Römer. Da versorgen sie die Kranken und die Verwundeten. Ich kann ein bißchen Lateinisch von Cornelius.
Bona valetudo
heißt Gesundheit.«
»Und wo ist dieser Ort?«
»In der Festung Antonia.«
Selene überlegte. Sie hatte noch nie von einem
valetudinarium
gehört. Ihres Wissens gab es in Rom als Heilstätten nur die Äskulaptempel. Aber da gab Elisabeth ihr schon die Erklärung.
»Das
valetudinarium
gehört zum Militär. Nur Soldaten kommen dorthin«, sagte sie. »Cornelius hat mir davon erzählt, als sein Freund Flavius mit einer Verwundung dort lag. Er sagte, es gibt an jeder Grenzfestung eines. Sogar in Germanien.«
»Kannst du Cornelius dort nicht besuchen?« fragte Selene und versuchte, sich ein Haus vorzustellen, das nur für Kranke und Verwundete bestimmt war und wo Ärzte die Behandlungen vornahmen.
»Nein. Zivilpersonen dürfen in die Festung nicht hinein.«
»Was ist mit Cornelius’ Freund? Kann er dir nicht Nachricht geben, wie es Cornelius geht?«
»Flavius? Nein, der weiß nicht, wo ich wohne. Aber – Selene, er hat immer in der Straße beim Tempel Wache. Ich kann zu ihm gehen.« Elisabeth nahm Selene bei der Hand. »Gehst du mit mir? Ich habe Angst, allein auf die Straße zu gehen.«
»Natürlich gehe ich mit dir.«
Elisabeth strahlte. »Morgen? Ganz früh?«
»So früh du willst. Aber jetzt leg dich schlafen.«
Wieder auf ihrer Matte, schlief Selene beinahe augenblicklich ein. Sie merkte nicht, daß ihre kleine Tochter sich unruhig hin und her wälzte.
Im Schlaf griff Ulrika nach dem Holzkreuz, das an ihrem Hals hing, dem Kreuz Odins, das Wulf Selene vor nahezu zehn Jahren umgelegt hatte. Von tiefer Unruhe bewegt, warf sich das kleine Mädchen hin und her. »Vater«, flüsterte sie im Traum.
44
Sie kamen zu einem
trivium
, einer Dreiwegekreuzung, wo die Leute gern zu einem Schwatz stehenblieben. Dort, im Schatten der Festung, trafen sie mit Flavius zusammen.
Er war sehr jung, mit Flaum auf den Wangen und einer schlecht sitzenden Rüstung am knabenhaft schlanken Körper. Niemand aus der Menge, die sich durch das Tor in Herodes’ prächtigen neuen Tempel wälzte, achtete auf die drei Frauen und das kleine Mädchen, die da mit einem römischen Soldaten beisammen standen.
Das erste, was Flavius berichtete, war, daß Cornelius noch immer bewußtlos war. Elisabeth begann zu weinen.
»Gibt es keine Möglichkeit, ihn zu besuchen?« fragte Selene und sah mit zusammengekniffenen Augen an den massigen Mauern über der schmalen Straße empor.
»Man muß schon ein kranker oder verwundeter Soldat sein, um ins
valetudinarium
zu kommen«, antwortete Flavius. Er zeigte ihnen den Gebäudeteil, in dem sich das Lazarett befand. »Das
valetudinarium
selbst ist nicht bewacht«, erklärte er, »aber die Festung. Die Zeiten sind unruhig, wißt ihr. Es gibt immer wieder Aufstände und Unruhen, besonders da drinnen.« Er wies mit dem Kopf zum Tempelbezirk, wo sich die Menschen drängten. »Es gibt eine Menge Hitzköpfe in Jerusalem.«
Selene musterte die massige Mauer,
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