Seelenfeuer
Verfahren, das sie bisher noch nirgends angetroffen hatte, dessen Wert sie aber sogleich begriff.
»He!« erklang eine tiefe Stimme.
Elisabeth und Selene fuhren herum. Ein grauhaariger alter Soldat humpelte aus seinem Zimmer. Er hielt sich am Türrahmen fest und sprang auf einem Bein vorwärts. Das andere war unter dem Knie amputiert.
»Wen sucht ihr?« fragte er.
Elisabeth wollte antworten, konnte aber keinen Laut hervorbringen.
»Cornelius«, sagte Selene deshalb. »Man hat uns gesagt –«
»Dahinten«, sagte der Soldat und fuchtelte mit dem Arm. »Bei den eingeschlagenen Schädeln.« Aus dem Zimmer hinter ihm erscholl Gelächter.
Sie gingen an drei weiteren offenen Türen vorüber und gelangten schließlich zu einem Raum, wo vier schlafende Männer mit verbundenen Köpfen lagen. Alle Furcht und Zaghaftigkeit vergessend, rief Elisabeth: »Cornelius!« und stürzte an das Bett ihres Freundes.
Selene folgte langsam, bemüht, sich alles einzuprägen, was sie in dem Krankenzimmer sah. Die Betten standen in gleichem Abstand voneinander, über dem Kopfende eines jeden hing ein Wachstäfelchen an der Wand, auf einem Tisch an der freien Wand standen mehrere Schalen mit Wasser, daneben lagen Verbandzeug und Instrumente griffbereit.
Praktisch war das Wort, das Selene in den Sinn kam. Das
valetudinarium
der Fünften Legion war nüchtern und praktisch.
Als sie zu Cornelius’ Bett kam, kniete sie nieder und zog die weinende Elisabeth behutsam weg, um sich über den jungen Mann zu beugen, seine Stirn zu fühlen, seine Augenreflexe zu prüfen, seinen Puls zu zählen.
»Ist das die Art, wie ihr Mädchen euch heutzutage euer Geld verdient?«
Elisabeth stieß einen unterdrückten Schrei aus, und Selene fuhr herum. Ein großer, schlanker Mann in einem langen weißen Gewand stand an der Tür. Er ist genau wie dieses Krankenhaus, dachte Selene, während sie langsam aufstand. Nüchtern und reserviert. Er war außerdem, wie sie bemerkte, ein sehr gutaussehender Mann.
»Wer seid ihr?« fragte er. »Was habt ihr bei diesem Mann zu schaffen?«
Sein Blick sagte Selene, wie sie wirken mußten, und sie erinnerte sich ihres herausfordernden Aufzugs: rote Lippen und Wangen, blaugefärbte Augenlider, blitzende große Ohrringe, rote Gewänder. Einen Moment lang wurde sie verlegen.
Dann erklärte sie ihm, warum sie hergekommen und wie sie hereingekommen waren. Der Fremde beobachtete sie mit durchdringendem Blick, während sie sprach, und sah bald, daß sie mit den üblichen nächtlichen Besucherinnen nichts gemein hatte. Sie strahlte nach anfänglicher Unsicherheit ein ruhiges Selbstbewußtsein aus, das er von den anderen Frauen nicht kannte.
»Ich glaube dir«, sagte er schließlich. »Ich bin Magnus, der Nachtarzt. Wie kann ich euch behilflich sein?«
»Immer wenn der Puls gezählt wird«, berichtete Selene Rani am folgenden Morgen beim Frühstück, »wird die Zahl auf ein Wachstäfelchen geschrieben, das über dem Bett hängt. Wird der Puls später nochmals gezählt, so kann man die neue Zahl mit der früheren vergleichen, um zu sehen, ob sich etwas verändert hat. Die Römer sind der Ansicht, daß eine Veränderung des Pulsschlags auf eine Veränderung im Befinden des Patienten hinweist.«
»Genial«, rief Rani, die jetzt wünschte, sie hätte Selene bei der Besichtigung des
valetudinariums
begleitet.
Auf dem Tisch hatten sie ein Blatt Papyrus liegen, auf dem Selene den Grundriß des Lazaretts aufgezeichnet hatte.
»Sie operieren nur morgens«, erklärte sie weiter. »Da ist das Licht am besten, und es ist noch kühl. Die frisch Operierten werden nicht in ihr Krankenzimmer gebracht, sondern bleiben in einem Raum neben dem Operationsraum.«
»Warum?« fragte Rani.
»Falls es Komplikationen gibt. Da hat man sie gleich in der Nähe.«
Ulrika, die mit ihrer Puppe in der Ecke saß, beobachtete ihre Mutter und Rani stumm und aufmerksam. Sie saßen dicht beieinander über den Tisch gebeugt und zeichneten Bilder. Sie schienen über irgend etwas sehr erfreut und aufgeregt zu sein.
Dann hörte Ulrika Gesang aus dem Garten. Sie drehte den Kopf und lauschte. Elisabeth war dort draußen und pflückte Blumen.
Am vergangenen Abend, als Elisabeth ihren Cornelius tief schlafend, mit bleichem Gesicht und verbundenem Kopf in dem Krankenbett gesehen hatte, war sie in Tränen ausgebrochen. Sie hatte ihn dem Tod geweiht geglaubt. Aber dann war der Arzt gekommen und hatte berichtet, daß Cornelius am Nachmittag wieder zu Bewußtsein
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