Seelenfeuer
Schnur um den Hals trug – ein Achat, in den eine komplizierte Zeichnung eingegraben war. Es gab im ganzen Reich keine zwei Siegel, die gleich waren. Wenn sie oder Selene Geld holen wollten, mußten sie den Kreditbrief vorlegen und das Siegel in Ton eindrücken.
»Bewahre nur Brief und Siegel getrennt auf«, hatte der Mann geraten. »Das eine ist wertlos ohne das andere. Wenn wirklich jemand den Brief oder das Siegel stehlen sollte, nützt ihm das gar nichts. Er kann dein Geld nicht von der Bank abholen.«
Rani wollte das Siegel gleich nach ihrer Rückkehr Selene geben. Den Kreditbrief, der jetzt in einem Holzröhrchen zusammengerollt in ihrem Gürtel steckte, würde sie selber behalten.
Ranis Gedanken eilten ihren schnellen Schritten voraus. Es gab noch so viel zu tun. Sie brauchten Proviant für die Reise, dazu Schlafmatten, dicke Umhänge zum Schutz gegen die Kälte auf See. Rani hatte noch ein paar Münzen in der Tasche. Sie wußte, daß auch Selene einen kleinen Betrag bei sich trug. Genug, rechnete sie sich aus, um die Einkäufe zu machen und in Alexandria die Unterkunft in einer Herberge zu bezahlen.
Elisabeth stand sichtlich beunruhigt vor ihrem Haus, als Rani ankam.
»Ulrika ist verschwunden«, berichtete sie sogleich. »Selene ist unterwegs, um sie zu suchen.«
Rani war verwundert. Das war nicht die Art des Kindes. Sie sah zu den Dächern hinauf. Es lag kein Sonnenlicht mehr auf ihnen. Der Nachmittag ging rasch zur Neige, und in den Straßen Jerusalems begann es schon still zu werden. Die Menschen zogen sich zur Feier des Sabbats, der an diesem Abend begann, in ihre Häuser zurück.
»Ich gehe auch suchen«, sagte Rani zu Elisabeth. »Warte du hier. Vielleicht findet Ulrika allein nach Hause.«
Rani eilte in das Gewirr schmaler Straßen und Gassen in dem Viertel hinter Elisabeths Haus. Sie war noch nicht weit gegangen, als sie zu einer Reihe kleiner Lagerhäuser gelangte, die schon zur Nacht abgesperrt waren. In den Straßen dämmerte es. Rani schritt an lichtlosen Torbögen und verschlossenen Türen vorüber. Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Aus der Ferne, über die Dächer hinweg, hörte sie das Summen der Stadt. Näher jedoch vernahm sie ein klareres Geräusch; ein vertrautes Geräusch. Sie erschrak.
Es war das leise, drohende Knurren eines Hundes.
Vorsichtig ging sie weiter, blieb immer wieder stehen, um nach dieser und jener Richtung Ausschau zu halten. Und je näher sie dem bedrohlichen Knurren kam, desto unheimlicher wurde ihr.
Noch ein paar Schritte, und sie stand an der Einmündung zu einer kleinen Seitengasse. Das Licht war so dämmrig, daß sie Mühe hatte, etwas zu sehen. Dennoch konnte sie etwa auf halbem Weg die Gasse hinunter einen Hund erkennen. Der Schaum vor seinem Maul glänzte silbern. Und dann sah sie am Ende der Gasse, an einer Mauer, Ulrika stehen.
Rani drückte die Hand auf die Brust, als könne sie so ihr rasendes Herz beruhigen. Sie öffnete den Mund, um zu sprechen, aber ihre Kehle war wie ausgedörrt. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, schluckte einmal und sagte dann so ruhig sie vermochte: »Ulrika, ich bin es, Rani. Hab keine Angst.«
»Ich habe keine Angst«, kam die Stimme des Kindes.
»Ulrika, tu jetzt genau, was ich dir sage. Mache keine plötzlichen Bewegungen. Dreh dich langsam um und schau, ob es hinter dir oder neben dir einen Ausgang aus der Gasse gibt.«
»Nein, es gibt keinen.«
Rani schloß einen Moment die Augen. Es war eine Sackgasse. Um herauszukommen, mußte Ulrika an dem Hund vorbei.
»Ulrika«, sagte sie wieder. »Der Hund ist krank. Er weiß nicht, was er tut. Wir müssen sehr vorsichtig sein. Verstehst du mich?«
»Ja.«
»Du mußt ganz still stehenbleiben, Ulrika. Und sieh ihm nicht in die Augen. Das mag er nicht. Sieh weg.«
Rani überlegte fieberhaft. Wenn sie Hilfe holen ging, würde sie kostbare Zeit verlieren. Wenn sie um Hilfe rief, in der Hoffnung, daß ein Vorüberkommender sie hören würde, konnte das den Hund so erschrecken, daß er angriff. Was soll ich tun? dachte sie. Was soll ich nur tun?
Voller Entsetzen sah sie, wie der Hund sich Ulrika langsam näherte. Knurrend, am ganzen Leib zitternd, kroch er tief am Boden entlang. Rani hatte früher schon tollwütige Hunde gesehen; sie wußte von der Bösartigkeit, die sie im letzten Stadium der Krankheit überfiel. Jeden, der diesem Tier im Weg stand, würde es angreifen und zerfleischen.
Großer Shiva, betete Rani, hilf mir!
Selene kam atemlos ins Haus
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