Seelenfeuer
herausgekommen und standen winkend und gestikulierend an der Tür. Die Frauen winkten lachend zurück und gingen schneller. Vier trennten sich von der Gruppe und verschwanden durch einen Torbogen.
Während sie schleppenden Schrittes der Gruppe folgten, die den Unterkünften zustrebte, versuchte Selene auszumachen, wo das
valetudinarium
sein konnte. An der Ostseite, hatte Flavius gesagt. Sie befanden sich jetzt auf der Ostseite, aber hier war nichts, was einem Krankensaal glich.
»Selene«, flüsterte Elisabeth ängstlich, als sie den Mannschaftsräumen immer näher kamen. Ein paar besonders ungeduldige Männer waren in den Gang herausgetreten, um die Frauen näher in Augenschein zu nehmen und ihre Wahl zu treffen. Rasch begann die Gruppe sich aufzulösen.
Als ein Riese von Mann auf Selene zusteuerte, sagte sie hastig: »Komm!« und zog Elisabeth in die Finsternis des nächsten Torbogens. Blind stolperten sie in einen engen Gang und stürzten sich, als sie laute Rufe hinter sich hörten, Hals über Kopf in die Dunkelheit. Nachdem sie ein ganzes Stück gelaufen waren, hielten sie an und lauschten, an die Mauer gedrückt, mit angehaltenem Atem. Alles war still. Vom Hof kam kein Geräusch mehr.
»Selene«, hauchte Elisabeth, die so heftig zitterte, daß ihre Halskette klirrte, »ich habe Angst.«
»Still! Sie sind in ihre Unterkünfte gegangen. Sie haben uns vergessen.«
»Aber wenn sie nun doch draußen stehen und auf uns warten?«
»Das tun sie nicht. Jetzt hör mir zu. Wir können nicht weit von dem Krankensaal sein. Wir finden ihn bestimmt.«
»Wie denn?«
Selene rief sich die Kreuzung ins Gedächtnis, wo sie am Morgen gestanden hatten. Flavius hatte nach oben gedeutet.
Hier,
hatte er gesagt, wäre das
valetudinarium
. Konnte das wirklich sein?
»Wo sind wir?« flüsterte Elisabeth.
»Ich weiß nicht.« Zögernd, mit vor sich ausgestreckten Armen trat Selene von der Mauer weg. Sie ging ein paar Schritte, dann noch ein paar und stieß schließlich an die gegenüberliegende Wand. Sie war erstaunt. Der Gang hatte sich verbreitet. Mit der flachen Hand tastete sie die Steinmauer ab und stieß auf eine Wandfackel.
»Elisabeth«, rief sie leise, »hast du den Zunder mitgebracht?«
Sie hob die Fackel aus dem Halter, während Elisabeth Feuerstein und Stahl aneinanderrieb. Nun hatten sie Licht. Was Selene sah, erstaunte sie noch mehr. Der Gang war beträchtlich breiter geworden, und statt des Steinpflasters hatten sie nun Holzdielen unter den Füßen. An seinem Ende sah sie eine große Flügeltür mit hölzernen Bänken daneben.
Dicht gefolgt von Elisabeth huschte sie leise durch den Korridor. Als sie die große Flügeltür erreichten, starrten sie beide erstaunt auf den von zwei Schlangen umwundenen Stab, der in das Holz eingekerbt war. Es war das Zeichen des Äskulap, des Gottes der Heilkunst.
»Wir haben es gefunden«, sagte Selene aufatmend.
Als der Wächter gähnend die Tür öffnete, war er nicht überrascht, zwei Dirnen vor sich zu sehen. Aber er war verärgert, daß er nicht vorher sein kleines Schmiergeld erhalten hatte. Er verlangte es jetzt in verdrießlichem Ton, und Selene gab ihm eine Silbermünze. Nachdem er flüchtig die Prägung der Münze begutachtet hatte, sagte er mürrisch: »Schaut nur, daß ihr wieder weg seid, ehe die Ärzte kommen«, und kehrte zu seinem Würfelspiel zurück.
Selene und Elisabeth blieben einen Moment zaudernd an der Tür stehen. Vor ihnen dehnte sich ein langer, hell erleuchteter Gang mit offenen Türen zu beiden Seiten, aus denen vielfältige Geräusche kamen – gedämpftes Gelächter, sanftes Gemurmel, der klagende Klang einer Panflöte, aber auch leises Stöhnen und Jammern. Am Ende des Korridors standen zwei Marmorstandbilder: Äskulap, der Gott der Heilkunst mit dem Schlangenstab, und der römische Kaiser Claudius.
Während Selene und Elisabeth langsam durch den Gang schritten, blickten sie rechts und links durch die offenen Türen. Hinter jeder befand sich ein kleiner Krankenraum mit jeweils vier Betten. Alle Betten waren belegt. Die meisten Patienten schliefen, einige aber waren noch auf, Männer mit verbundenen Armen und Beinen, manche an Krücken humpelnd.
Elisabeth verkroch sich in ihren Umhang und zog ihren Schleier vor ihr Gesicht. Doch Selene schaute neugierig in jeden Krankenraum und versuchte, sich zu merken, was sie sah. Die Patienten waren, wie sie mit steigendem Interesse vermerkte, nach der Art ihrer Krankheiten oder Verletzungen eingeteilt, ein
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