Seelenfeuer
zusammensetzte; dies war der alte und verwahrloste Tempel des Äskulap, der von einer Handvoll aufopfernder Brüder notdürftig instand gehalten wurde.
Die Hoffnungen, die Selene nach Paulinas und Junos großzügigen Spenden im Dezember beflügelt hatten, hatten sich nicht erfüllt. Sie hatte in den nachfolgenden Monaten erfahren müssen, daß Geld nutzlos war, wenn keine Arbeitskräfte zur Verfügung standen. Der Tempel brauchte Menschen, die zupacken konnten und bereit waren, sich mit Herz und Hand einzusetzen. Doch die Insel war gewissermaßen zu einer Exklave geworden. Die Angst vor den Kranken, vor der ungesunden Luft rund um den Tempel und vor den bösen Geistern der Krankheit und des Todes schreckte die Menschen ab.
Selene nahm es ihnen nicht übel; ihre Furcht war berechtigt. Aber waren sie denn unfähig, aus früherer Erfahrung zu lernen? Die römischen Gesundheitsbeamten kannten doch die Vorteile von sanitären Einrichtungen und allgemeiner Hygiene – Abwasserkanäle, Straßenabflüsse, das alles gab es in der Stadt. Man hatte die Sümpfe am Fluß trockengelegt, um die immer wiederkehrende Seuche der Malaria zu besiegen; und die lästigen Mücken, die in den Sümpfen gebrütet hatten, waren verschwunden.
Wie kam es, fragte sich Selene beinahe zornig, während sie Äskulap einen Strauß Frühlingsblumen zu Füßen legte, daß die Römer diese Insel vergaßen.
Weil man von einem Volk, das sich an Gemetzel und Blutvergießen ergötzt, kein Mitgefühl erwarten kann, dachte sie bitter.
Bei dem Gedanken tauchte die Erinnerung an jenen schrecklichen Tag auf, als sie mit Ulrika zu den Spielen im Circus Maximus gegangen war, die dort zur Feier des neuen Jahres veranstaltet worden waren. Ganz Rom war auf den Beinen gewesen, und Selene und Ulrika hatten sich von dem Strom mittragen lassen, der sich durch die Torbögen in das Stadion wälzte. Staunend hatten sie das gewaltige Bauwerk bewundert, das größte seiner Art auf der Welt, bis nach Persien berühmt für die Wagenrennen, die hier stattfanden.
Von der Menge gestoßen und gepufft, waren sie zu den obersten Sitzreihen hinaufgestiegen, wo sie, von der allgemeinen Erregung mitgerissen, unter einem Sonnendach Platz genommen hatten, Selene mit einem Korb auf dem Schoß, der Eier, Brot und Käse und eine Flasche verdünnten Wein enthielt. Ulrika hatte zum erstenmal seit langem wieder gelacht, während sie ungeduldig wie die Massen um sie herum auf den Beginn der Veranstaltung gewartet hatten.
Endlich schmetterten die Fanfaren, und unter dem donnernden Gebrüll der Menge wurden die Götter und Göttinnen in die Arena getragen. Ihnen folgten Priester, Würdenträger der Stadt, die Künstler, die an diesem Tag das Publikum unterhalten wollten, und zuletzt der Kaiser und die Kaiserin, bei deren Erscheinen sich der Beifall der Massen bis zur Raserei gesteigert hatte.
Die Vorstellung begann mit einer Truppe Reiter, die jeweils auf zwei Pferden stehend, durch die Arena galoppierten. Es war ein aufregendes Spektakel, und Selene und Ulrika klatschten aus Leibeskräften, als die Reiter wieder abzogen. Danach kamen Turner und Akrobaten, alle in prächtigen Kostümen, und dazwischen unterhielten Clowns und Possenreißer die Leute mit ihren Späßen.
Neuerliche Fanfarenstöße kündigten den nächsten Programmteil an: Zwei Männer im Lendenschurz, Helme auf den Köpfen, Schwerter und Schilde in den Händen, traten in die Arena. Die Leute grölten. Die beiden Kämpfer schienen berühmt zu sein. Wetten wurden abgeschlossen, und Selene hörte aus einem Gespräch ihrer Nachbarn, daß der Größere der beiden bereits einhundert Kämpfe gewonnen hatte und allgemein als Favorit gehandelt wurde.
Als der Kampf begann, geriet das Publikum völlig außer Rand und Band. Die Schwerter klirrten, die geölte Haut der Kämpfer glänzte im Spiel der gewaltigen Muskeln. Selene und Ulrika sahen zuerst mit Neugier, dann mit wachsendem Entsetzen zu.
Das Johlen der Menge schwoll ohrenbetäubend an, als einer der Gladiatoren, der hochgewachsene Favorit, zu Boden stürzte, und sein Gegner ihm augenblicklich den Fuß auf die Brust setzte. Der Sieger blickte zur Loge des Kaisers, das Zeichen – Daumen nach unten – wurde gegeben und ohne zu zögern, stieß der Sieger seinem gefallenen Gegner das Schwert in die Brust. Dann bückte er sich und riß dem Besiegten den Helm ab. Die blonden Zöpfe eines Germanen kamen darunter zum Vorschein.
Selene und Ulrika konnten nur starr vor Entsetzen
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