Seelenfeuer
kaiserliche Familie. Sie fand Claudius’ Erscheinung nicht so abstoßend, wie sie von seinen Gegnern geschildert wurde. Er hinkte und wackelte mit dem Kopf, aber er war weder ausnehmend häßlich, noch machte er auf Selene den Eindruck besonderer Bösartigkeit. Sie sah, daß das Ruhebett an seiner Seite leer war und wunderte sich, wo die Kaiserin war.
Fanfarenklänge lenkten aller Aufmerksamkeit auf den Fluß. Aus der Ferne war das Geschrei der Menge zu hören, die den Beginn des Spektakels begrüßte. Dumpfer, rhythmischer Trommelschlag näherte sich, und die Menge verstummte. Aller Augen richteten sich auf die Flußbiegung, wo der Bug eines prächtigen Schiffes in Sicht kam, auf dem der
hortator
mit seiner Trommel den Ruderern unter Deck den Schlagtakt angab. Sobald das Schiff die Biegung ganz umrundet hatte, schossen tausend Bogenschützen, die überall am Fluß entlang unter den Schaulustigen postiert waren, Pfeile in die Luft, an denen bunte Bänder und Wimpel flatterten. Ein vielfarbiger schwebender Teppich verhüllte den Nachmittagshimmel, und die Menge jubelte.
Auf dem Prunkschiff präsentierte sich der Gott Tiber, dargestellt von einem Schauspieler mit langem zottigem Haar und einem buschigen Bart. In der einen Hand hielt er ein Ruder, Symbol der Seefahrer, die auf seinen Wassern kreuzten, in der anderen ein Füllhorn, Sinnbild der Fruchtbarkeit. Umgeben von nackten Wassernymphen, die mit vollen Händen Süßigkeiten zu den Zuschauern hinüberwarfen, stand Tiber inmitten nachgeahmter Meereswogen. Die Menge geriet in heftige Bewegung, drängte zum Fluß, stieß die in den vordersten Reihen ins Wasser.
Als nächstes kam ein kleineres Boot. Es trug nur einen Käfig mit der Wölfin, die stets auf dem Kapitol ausgestellt war. Bei der Wölfin im Käfig waren zwei kleine Knaben, die Romulus und Remus darstellen sollten, die Gründer Roms. Doch anstatt an den Zitzen der Wölfin zu saugen, wie beabsichtigt, hockte der eine schreiend in der Ecke und der andere lag völlig teilnahmslos im Stroh. Es war offenkundig, daß man der Wölfin ein Betäubungsmittel gegeben hatte, um zu verhindern, daß sie die kleinen Kinder angriff; jedesmal wenn sie aufstehen wollte, kippte sie torkelnd wieder um. Gewiß nicht die Wirkung, die vorgeschwebt hatte, aber die Menge klatschte dennoch Beifall.
Wieder schmetterten Trompeten, und um die Flußbiegung kam ein höchst merkwürdiges Floß. Steine waren auf ihm zu einem hohen Haufen aufgetürmt, der wohl einen Berg darstellen sollte, und auf der Spitze dieses ›Bergs‹ stand ein nackter Mann, dem zwei gewaltige gefiederte Flügel auf den Rücken gebunden waren. Die Zuschauer erkannten ihn sofort. »Ikarus!« schrien sie. »Da ist Ikarus!«
Der Mann, unverkennbar kein Freiwilliger, sondern ein Sklave, dem man die Rolle aufgezwungen hatte, stand zitternd auf seiner Bergeshöhe und wagte nicht einmal, zum Wasser hinunterzublicken.
»Flieg, Ikarus!« grölte die Menge. »Flieg! Flieg!«
Zweifellos hatte der Mann Anweisung zu springen, sobald das Floß an der kaiserlichen Tribüne vorüberkam, doch er stand wie gelähmt vor Furcht. Da erklomm der Steuermann, der hinter dem Steinhaufen verborgen war, den Gipfel und stieß den ängstlichen Ikarus hinunter. Er stürzte ins Wasser, wo ihn die schweren Schwingen sogleich in die Tiefe zogen. Die Menge raste vor Begeisterung.
Selene wandte sich ab. Die Leute, bei denen sie saß, waren dezenter als die Volksmenge; sie nickten beifällig, während sie gelassen speisten und sich mit ihren Nachbarn unterhielten.
Sie sah über ihre Schulter und bemerkte, daß Andreas’ Blick auf sie gerichtet war.
Das nächste Schiff war sehr schön, die Schöpfung eines Künstlers. Aus dem Deck wuchs ein künstlicher Wald in die Höhe – Bäume, Büsche, sogar ein Wasserfall waren zu sehen. Und mitten in diesem Idyll stand einsam ein weißes Pferd mit hoch aufragenden weißen Schwingen, in denen sich das kupferrote Licht der untergehenden Sonne fing.
Friedlich und still segelte Pegasus an der Menge vorüber, die in andächtiges Schweigen verfiel.
Doch schon das nächste Schiff bejubelten sie wieder mit lärmendem Überschwang. Es brachte ihnen Selene, die Mondgöttin, ganz in Silber gekleidet, die Arme mit Silberstaub besprenkelt, und ihren Bruder Helios, den Sonnengott, im goldenen Sonnenwagen, das Haupt von einem goldenen Strahlenkranz umgeben. Als Sonne und Mond langsam an der kaiserlichen Tribüne vorüberglitten, verneigten sie sich vor Claudius,
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