Seelenfeuer
begann, ging ein Aufschrei des Erstaunens durch die Menge.
Die eine Hälfte der Muschel senkte sich langsam abwärts, und als ihr Schatten das Innere freigab, sahen alle, was die Muschel enthielt. Zweihunderttausend brüllten ihre Begeisterung heraus, als Venus, Roms liebste Göttin, im Inneren der Muschel sichtbar wurde.
Eine unwirklich schöne junge Frau, ihre Haut so weiß wie das Mondlicht, stand inmitten der künstlichen blauen Meereswogen. Das goldschimmernde Haar fiel ihr über die nackten Brüste, ihr lächelndes Antlitz wirkte wie gemeißelt im Licht der Fackeln.
»Messalina«, riefen die Leute. »Es ist die Kaiserin.«
Selene betrachtete die zweiundzwanzigjährige Kaiserin fasziniert. Sie wußte, daß Messalina vierzehn gewesen war, als sie Claudius, den Acht- undvierzigjährigen, geheiratet hatte; und daß sie aus altem, vornehmem Geschlecht stammte. Daß Messalina außerdem eine laszive und grausame Frau war, war, soweit Selene es beurteilen konnte, nichts als böses Gerücht.
In ihrer Nähe sagte jemand: »Es ist ein offenes Geheimnis, daß Messalina sich nachts eine blonde Perücke aufsetzt und das berüchtigste Bordell am Hafen aufsucht, wo sie sich den Männern umsonst hingibt. Es heißt, daß sie unersättlich ist.«
Selene starrte die schöne Kaiserin an, von der es hieß, sie töte ihre Liebhaber, wenn sie genug von ihnen habe, und von der bekannt war, daß sie mehrere Frauen des Adels aus Eifersucht hatte töten lassen. Und mit dieser Frau bin ich verwandt, dachte Selene, als ihr einfiel, daß Messalina die Urenkelin Octavias war, der Großnichte Julius Cäsars.
Als Messalina lange genug in der geöffneten Muschel gestanden hatte, um allen Gelegenheit zu geben, die Geburt der Göttin zu bestaunen, stieg sie von einem Sockel und begann zu plötzlich einsetzendem Flötenspiel zu tanzen. In der Waldidylle zeigte sich jetzt ein junger Mann, den alle sofort erkannten: Es war Silius, angeblich der schönste und ehrgeizigste Mann von Rom – und Messalinas Liebhaber.
Während ›Adonis‹ auf seiner Seite des Schiffes so tat, als wäre er der Göttin nicht gewahr, spielte Venus mit ihren beiden Söhnen Eros und Anteros. Als Eros, der kleine Britannicus, Messalinas Sohn, seinen kleinen Bogen spannte und einen Pfeil auflegte, wußten alle, was geschehen würde. Die Geschichte, wie Cupidos Pfeil versehentlich die Brust der Venus durchbohrt hatte, und diese den Adonis erblickt hatte, noch ehe die Wunde verheilt war, gehörte zu den beliebtesten Mythen. Auch das Ende der Geschichte war allen bekannt: Adonis wurde von einem Eber getötet, und an der Stelle, wo sein Blut vergossen wurde, wuchs eine neue Blume, die rote Anemone.
Doch so weit gedieh das Drama gar nicht. Venus stellte sich in Positur, und Eros zückte seinen Bogen. Ein wenig unsicher auf dem leicht schwankenden Schiff, machte Britannicus einen Schritt nach rückwärts, um sein Gleichgewicht zu finden, und fiel ins Wasser.
Einen Augenblick war es totenstill, dann begann die Menge lauthals zu lachen, während der Knabe wie wild im Wasser strampelte.
»Er kann nicht schwimmen!« schrie Messalina.
Augenblicklich sprangen mehrere Männer ins Wasser. So erpicht war jeder von ihnen darauf, die Lorbeeren für die Rettung des kaiserlichen Erben einzuheimsen, daß sie sich gegenseitig ins Gehege kamen. Hinzukam, daß sie kaum etwas sehen konnten und sich immer wieder in den Ankertauen des Schiffes verfingen. Als der Junge schließlich ans Ufer gezogen wurde, war er bewußtlos und atmete nicht.
»Tut etwas!« schrie Messalina in höchster Angst. Die Männer packten Britannicus an den Füßen und schwangen ihn hin und her.
Andreas stürzte von der Tribüne zum Ufer hinunter.
Selene sah, wie gefährlich nahe der Kopf des Jungen bei jedem Schwung dem Boden kam. Und sie hatte noch etwas gesehen, was keiner bemerkt zu haben schien: daß Britannicus von Nero vom Boot gestoßen worden war.
Andreas riß den Männern den Knaben aus den Händen. Er legte den Knaben rücklings auf den Boden und begann, seine Arme auf und nieder zu bewegen wie Pumpenschwengel.
Stumm sahen die Menschen seinen Bemühungen zu. Messalina stand fröstelnd in Silius’ Armen. Claudius, der immer noch auf der Tribüne saß, schien wie betäubt. Alle sahen das Wasser aus Britannicus’ Mund sprudeln, aber er atmete immer noch nicht.
»Er ist tot!« flüsterte Paulina entsetzt.
Selene sprang auf und rannte zum Ufer. Ohne ein Wort zu Andreas, kniete sie sich über Britannicus,
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