Seelenfeuer
nahm seinen Kopf in ihre Hände und begann, in seinen Mund zu blasen.
Andreas wich verdutzt zurück; die anderen beobachteten verwundert, was die Fremde dort tat. Selene blies mehrmals in den Mund des Jungen, dann hielt sie inne und beobachtete seine Brust. Sie bewegte sich nicht. Selene beugte sich über ihn und drückte ihr Ohr auf sein Herz; sie hörte seinen schwachen Schlag. Wieder blies sie Britannicus in den Mund, immer im gleichen Rhythmus, hielt nur ab und zu inne, um zu sehen, ob er von selbst weiteratmen würde. Die Nacht schien sich zur Ewigkeit zu dehnen.
Selene war nahe daran, aufzugeben. Aber als sie wieder das Herz des kleinen Jungen abhörte, vernahm sie einen dünnen, raschen Pulsschlag, taktgleich mit ihrem eigenen. Lebe, rief sie lautlos. Du mußt leben!
Da sah sie plötzlich die Flamme. Sie erschien ihr ganz von selber; sie hatte sie nicht herbeschworen. Ihre Seelenflamme brannte so hell wie die Fackeln rundum. Als sie sie sah, kam eine wunderbare Ruhe über sie. Mit jedem Atemstoß schickte sie das kraftspendende Feuer der Flamme in den Körper des bewußtlosen Knaben. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Körper entspannt. Wie im Kuß umschlossen ihre Lippen den Mund des Britannicus, während sie ihm mit dem Feuer der Flamme Leben einhauchte.
Lebe, flüsterte es in ihr. Nimm meine Kraft in dich auf und beginne wieder zu atmen.
Als sie hinter geschlossenen Lidern sah, wie die Seelenflamme länger wurde, durch ihren Mund in den Mund des Knaben hineinzüngelte und sich dort mit einem kleineren, schwächeren Flämmchen vereinigte, wußte sie, daß er leben würde.
Die Menge wurde ungeduldig, Andreas legte ihr die Hand auf den Arm. Da richtete sich Selene endlich auf, und Britannicus hustete.
Unter tosendem Jubelgeschrei wurde der Junge fortgetragen und Selene auf die kaiserliche Tribüne geführt.
Lange mußte Claudius die Hände erhoben halten, ehe die Menschenmenge endlich still wurde. Dann sagte er mit zitternder Stimme: »Du hast meinem Sohn, dem Erben Roms, das Leben gerettet.«
Jetzt, wo sie vor ihm stand, konnte Selene auf seinem Gesicht die Verwüstungen sehen, die Krankheit und ausschweifender Lebenswandel angerichtet hatten. Claudius war nur wenige Jahre älter als Andreas, doch er sah aus wie hundert. Er war sichtlich erschüttert.
»Wie heißt du?« fragte er.
»Selene, Herr.«
Claudius’ Lippen zuckten. »Nenn mich nicht Herr«, sagte er leise. »Sag einfach Cäsar.« Lauter fügte er hinzu: »Du hast hier heute abend ein Wunder vollbracht. Es ist ein Zeichen der Götter.«
Die Menge jubelte.
Claudius wartete, bis der Tumult sich gelegt hatte, dann sagte er: »Für das, was du getan hast, ist keine Belohnung groß genug.« Selene sah die Tränen in seinen Augen. Claudius hätte beinahe seinen einzigen Sohn verloren. »Nenne deinen Lohn«, sagte er. »Du sollst sehen, wie Rom seinen Helden dankt.«
»Ich danke dir, Cäsar«, erwiderte Selene. »Für mich selber will ich nichts, aber ich bitte den göttlichen Cäsar, daß er die Tiberinsel unter seinen persönlichen Schutz nimmt.«
»Wie? Die Insel? Warum?«
Selene schilderte ihm die Zustände auf der Insel, die Ohnmacht der überlasteten Priester und Brüder, die Massen abgeschobener Sklaven, und als sie endete, fragte der Kaiser: »Woher weißt du das alles?«
»Weil ich dort arbeite, Cäsar. Ich bin Heilerin.« Selene warf einen Blick auf Andreas, der hinter dem Kaiser stand, und sah, daß er sie anlächelte.
»Eine Heilerin!« rief Claudius. »Darum warst du in der Lage, meinem Sohn das Leben wiederzugeben. Dein Wunsch soll erfüllt werden, Selene. Die Insel steht von nun an unter dem Schutz des Kaisers. Meine Minister werden sich gleich morgen dorthin begeben und sehen, was zu tun ist. Ich bin ein Mensch, wie du sehen kannst, der es sich nicht leisten kann, den Gott der Heilkunst zu mißachten.«
Selene lächelte. »Ich danke dir, Cäsar.«
»Selene heißt du also, wie?« fragte er. »Ist das dein voller Name? Welcher Familie gehörst du an?«
Selene zögerte. »Mein voller Name lautet Kleopatra Selene.«
»Kleopatra Selene? Wie das?«
»Ich wurde nach meiner Großmutter genannt, der letzten Königin von Ägypten.«
Die Mitglieder der kaiserlichen Familie und die höchsten Würdenträger des Reiches, die um Claudius versammelt waren, starrten Selene ungläubig an. Hinter ihr an den Flußufern, auf Balkonen und Hausdächern warteten die Menschen voller Spannung. Nur das Flattern der Wimpel im Wind und das
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