Seelenfeuer
Andreas blieben.
Es war tiefe Nacht, das Schlafgemach war in den sanften Schein der Lampen gehüllt, die von der Decke herabhingen. Selene saß am Bett des Jungen, den Blick auf seinem Gesicht. Er schlief ruhig und tief.
»Woher kanntest du das Verfahren, das du heute angewendet hast?« fragte Andreas, der mit verschränkten Armen an einer Säule lehnte. »Ich habe noch nie davon gehört.«
»Ich habe es in Persien gelernt«, antwortete sie. »In mancher Hinsicht sind die Inder uns in der Heilkunde weit voraus.«
»Und nun verehrt das Volk dich als Göttin.«
»Die Leute brauchen immer ein Idol. Morgen wird es jemand anderer sein.«
Andreas trat von der Säule weg und wanderte durch das prunkvolle Schlafgemach. »Ich war sehr froh, dich heute abend auf dem Fest zu sehen«, sagte er. »Ich dachte schon, ich hätte dich verfehlt.«
»Mich verfehlt?« Sie drehte sich erstaunt um. »Was meinst du damit?«
»Ich suchte heute nachmittag Paulinas Haus auf, und du warst nicht da.«
Selene sah ihn an. Noch immer übte er die gleiche starke Anziehungskraft auf sie aus wie vor vielen, vielen Jahren. »Liebst du Paulina?« hörte sie sich fragen.
Er zog die Brauen hoch. »Ja, ich liebe sie. Aber als Freundin.«
»Du kamst heute morgen in Rom an und bist direkt zu ihr gegangen.«
»Um
dich
zu sehen.«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Frag den Sklaven am Tor, wenn du nach Hause kommst. Als mein Schiff hier einlief, hatte ich nur einen Wunsch – dich zu sehen.«
»Warum hast du mir nie geschrieben?«
»Ich habe es versucht«, antwortete er leise. »Viele Male.«
Selene krampfte die Hände ineinander. »Warum bist du nach Spanien gereist, anstatt sofort nach Rom zurückzukehren?«
»Claudius sandte mich dorthin. Er wollte etwas geklärt haben, und ich war der einzige, dem er vertraute. Ich hatte keine Wahl.«
Es knisterte etwas in der Luft. Selene fühlte es. Es ging von Andreas aus und von ihr selber. Laß es, sagte sie sich. Ihr seid jetzt Fremde. Es ist zu viel geschehen. Reiß die Wunden nicht wieder auf. Laß es ruhen.
Aber sie konnte nicht. Die Vergangenheit hatte zuviel Macht über die Gegenwart.
»Andreas«, sagte sie leise, »ich möchte dich etwas fragen. Ich sollte es wahrscheinlich nicht tun. Ich sollte es ruhenlassen und allmählich vergessen. Nach den langen Jahren …«
Er kam näher zu ihr. »Was willst du wissen?«
»Bist du …« Sie starrte auf ihre verkrampften Hände. Wenn er nein sagt, wenn er nein sagt … »Bist du je nach Palmyra gereist, Andreas?«
Sein Gesicht zeigte Verständnislosigkeit. »Nach Palmyra?«
Selene wünschte, sie hätte geschwiegen. Dann hätte sie die Wahrheit nicht hören müssen.
»Weshalb hätte ich nach Palmyra reisen sollen?« fragte Andreas.
Selene legte eine Hand auf Britannicus’ Stirn.
»Ich bin von Antiochien fortgegangen, ja«, sagte Andreas. »Um dich zu suchen. Aber nicht in Palmyra. Ich bin nach Tyrus gereist.«
Sie stand auf und trat ihm gegenüber. »Ich habe dir damals eine Nachricht hinterlassen. Hast du sie bekommen?«
»Ja. Aber was hat das mit Palmyra zu tun?«
»Das erklärte ich in meinem Schreiben.«
Andreas runzelte die Stirn. »In welchem Schreiben? Das Mädchen, das mir deine Nachricht überbrachte, sagte, du zögest nach Tyrus.«
»Nach Tyrus?«
»Ja, um zu heiraten.«
Selene war wie vom Donner gerührt. »Um zu heiraten? Und das hast du geglaubt?«
»So lautete doch die Nachricht, die du mir hinterlassen hattest.«
»Das stimmt nicht. Ich bat das Mädchen, dir zu sagen, daß meine Mutter mit mir nach Palmyra reisen würde. Ich wünschte mir, du würdest nachkommen und mich zurückholen. Ich hinterließ dir ein Schreiben auf einem Tontäfelchen.«
»Ich habe das Schreiben nie erhalten«, entgegnete er. »Das Mädchen berichtete, du hättest ihr gesagt, du hättest dich entschlossen, einen anderen zu heiraten.«
»Andreas! Das war eine Lüge!«
»Weshalb hätte sie lügen sollen?«
»Vielleicht wollte sie dich für sich haben.«
Andreas versuchte, sich an das Mädchen zu erinnern, das ihn damals nach dem Überfall am Hafen bei sich aufgenommen hatte. Sie war ein Mädchen mit traurigen Augen gewesen, die wie ein kleiner Geist durch das Haus gehuscht war. Sie war noch im selben Herbst an einer zehrenden Krankheit gestorben. Malachus hatte sie geliebt, daran erinnerte sich Andreas jetzt.
Er faßte Selene bei den Schultern. »Du sagst, es war eine Lüge, aber du hast dennoch geheiratet.«
»Nein! Nie.«
»Deine
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