Seelenfeuer
festzustellen ist. Nach acht Tagen ziehen wir die Fäden, und er ist geheilt.«
Andreas ging zum Wasserbecken, um sich die Hände zu waschen.
Die medizinische Praxis hatte längst nichts Wunderbares mehr für Andreas. Er arbeitete als Arzt, weil das die Tätigkeit war, auf die er sich verstand. Doch die Leidenschaft, das befriedigende Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, hatten weitgehend gefehlt. Ein Tag war wie der andere gewesen, eine Krankheit wie die vorhergehende. Doch mit seinem Bemühen, Selene zu unterweisen, hatte sich der Funke von neuem entzündet. Er hatte gemerkt, daß er ein guter Lehrer war. An den Nachmittagen, wo er Selene lehrte und führte, fühlte er sich lebendiger als je zuvor in seinem Leben; jeden Morgen erwachte er voller Ungeduld, beflügelt von dem Bestreben, Selene zu sehen.
Er hatte nicht gemerkt, daß er sie angestarrt hatte, bis sie plötzlich den Kopf hob und ihn anlächelte.
Mit dem Gefühl war an jenem Abend vor sieben Tagen auch das körperliche Begehren wiedererwacht, das Andreas völlig abgetötet geglaubt hatte. Er wußte, daß er Selene mit größter Behutsamkeit begegnen mußte.
Am liebsten hätte er sie auf der Stelle in die Arme genommen. Er hatte ihr das Tor zu anderen Welten geöffnet, nun wollte er ihr auch die Liebe erschließen. Manchmal war sein Verlangen nach ihr so heftig, daß es schmerzte: Aber dann dachte er an ihre Jugend, ihre Unschuld und daran, daß die Verbindung zwischen ihnen, so tief und fest sie sein mochte, neu war. Es war, als kennten sie sich seit Jahren, gewiß. Doch das Band, das sich zwischen ihnen angesponnen hatte, war noch zart und bedurfte liebevoller Pflege.
Denn die Frage war ja auch, was Selene wollte. Andreas war vierzehn Jahre älter als sie – auch wenn ein solcher Altersunterschied einer Heirat nicht unbedingt im Wege stand; es gab viele gute Ehen zwischen jungen Mädchen und reifen Männern. Aber er war auch in anderer Hinsicht älter als sie. Er war weit in der Welt herumgekommen. Selene hingegen hatte bis zu diesem Tag ein behütetes Leben geführt.
Wie sah sie ihn? Wenn sie ihn mit so unverhohlener Zuneigung ansah, war das dann die Liebe der Schülerin zu ihrem Lehrer, oder die der Schwester zum Bruder oder gar, was die Götter verhüten mochten, die Liebe der Tochter zum Vater? Was würde geschehen, wenn er es wagen sollte, ihr seine Gefühle zu offenbaren? Würde er sie nicht nur erschrecken und das zarte Band zwischen ihnen zerreißen?
Tumult auf der Straße riß Andreas aus seinen Gedanken. Er ging zum Fenster und schaute hinaus.
»Was ist?« fragte Selene und lief ebenfalls zum Fenster.
Eine wilde Menge wälzte sich um die Ecke und zog mit lautem Geschrei an Andreas’ Haus vorüber. Es schien eine Art Prozession zu sein. Die Teilnehmer waren mit Blumenkränzen und Kronen aus Eicheln geschmückt. Flötenspieler und Trommler begleiteten den Zug, dem sich immer mehr Leute zugesellten.
Dann sah Andreas das lebensgroße Bildnis, das dem Zug hinterhergetragen wurde. »Es ist eine Geburtstagsfeier«, sagte er. »Zu Ehren des Gottes Augustus.«
»Wohin ziehen sie?«
»Ich nehme an, nach Daphne. Dort werden die Feste zu Ehren der Götter abgehalten. Heute huldigen sie Augustus.«
»Aber Augustus ist doch tot?« fragte Selene, die sich zu erinnern meinte, daß in Rom ein anderer Kaiser namens Tiberius herrschte.
»Ja, Augustus starb vor sechzehn Jahren.«
»Warum feiern sie dann seinen Geburtstag?«
»Weil er ein Gott ist.«
Selene betrachtete das Standbild, das vorübergetragen wurde, und dachte, Augustus müsse ein sehr schöner Mann gewesen sein, wenn das Bildnis der Wirklichkeit entsprach.
»Aber wenn er ein Mensch war, wie kann er dann jetzt ein Gott sein?« fragte sie.
»Das Volk hat ihn zum Gott erhoben.«
»Hat es denn die Macht dazu?«
»In Rom herrscht der Pöbel, Selene. Er hat die Macht, Götter zu schaffen oder sie zu vernichten. Die Familie der Claudier herrscht nur, weil der Pöbel es ihr gestattet. Er machte auch Julius Cäsar zum Gott. Und es sollte nicht wundern, wenn man Tiberius noch zu Lebzeiten zum Gott erhebt.«
Selene konnte nur staunen. Was mußten das für Menschen sein, die Götter waren und den Kaiserpalast im fernen Rom bewohnten?
»Möchtest du zu dem Fest gehen?« fragte Andreas.
Selene überlegte. Sie hatte an diesem Tag nur zu Andreas kommen können, weil ihre Mutter zum Tempel der Isis gegangen war, um das Orakel zu befragen. Sie hatte Selene verboten, Andreas zu besuchen. Aber wie
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